Andreas Werren, Ex-Chef des Zürcher Justizvollzugs, übt nach dem Fall Marie Kritik an den Kantonen: Es fehle ein Gremium zur Fehleranalyse. Derweil will Natalie Rickli künftig die Behörden zur Rechenschaft ziehen.
Nach dem Mord an Marie geht die Diskussion über Anpassungen im Justizvollzug weiter. Nachdem Strafrechtsprofessor Daniel Jositsch letzte Woche eine einheitliche Norm für den Umgang mit gefährlichen Straftätern forderte, übt nun Andreas Werren, ehemaliger Amtschef des Zürcher Justizvollzugs, heftig Kritik an den Kantonen. Diesen fehle ein Gremium, das sich seriös mit Fehleranalysen auseinandersetzt und aus Fällen wie dem Mord an Marie seine Lehren zieht. Dies berichtet die «Schweiz am Sonntag». Werren gegenüber der Zeitung: «Wenn in einem Kanton etwas passiert, dann ducken sich alle. Im Fall Lucie hat später niemand im Aargau nachgefragt, was habt ihr daraus gelernt?»
Werren schlägt deshalb die Schaffung eines Kompetenzzentrums und die Abschaffung der drei Justizkonkordate zugunsten eines Einzigen vor. Ein einziges Konkordat, das nach einheitlichen Standards und Kriterien arbeitet und beurteilt, könnte Fehler, wie jetzt wieder beim Mord von Marie passiert, verhindern helfen.
Richter sollen Gutachten interpretieren können
Dieses Konkordat sollte ein Ort sein, in dem alle im Justizvollzug tätigen Gremien eingebunden sind. Das Kompetenzzentrum hätte laut Werren die Aufgabe, über die Kantonsgrenze hinaus interdisziplinär zusammenzuarbeiten. Werren stellt sich etwa die Schulung von Richtern vor. Diese sollen nicht nur eine juristische Beurteilung vornehmen, sondern auch wissen, wie man Gutachten interpretieren muss.
Der ehemalige Chef des Zürcher Amtes für Justizvollzug ist überzeugt, dass «diese Massnahmen die Qualität im Strafvollzug, die Beurteilung von Straftätern und die Behebung von Fehlerquellen erheblich verbessern würden». Dass er nach dem Mord an Marie mit seinen Vorschlägen offene Türen einrennt, daran glaubt er nicht. Laut Werren denkt jeder Kanton: «Wenn bei uns noch nichts passiert ist, kann unser System nicht so schlecht sein.» Ein Irrglaube, wie der Fall Marie zeige.
Rickli: Behörden sollen haften
SVP-Nationalrätin Natalie Rickli hat vom Hin- und Herreichen des Schwarzen Peters genug. Gegenüber der «SonntagsZeitung» sagt sie: «Nach dem Tod von Marie weisen sich die zuständigen Politiker, Behörden und Richter einmal mehr gegenseitig die Schuld zu.» Sie fordert deshalb, dass das zuständige Gemeinwesen bei Fehlentscheiden künftig haftbar gemacht werden kann. «Bei krassen Fehlentscheiden, die dazu führen, dass schwere Gewalt- oder Sexualtäter rückfällig werden, müssen die zuständigen Stellen und Behörden haften», so Rickli. Dazu reicht sie eine parlamentarische Initiative ein, die eine Ergänzung des Gesetzestextes in Artikel 380a, Absatz 1 verlangt.
Bisher können Behörden nur bei lebenslang Verwahrten zur Rechenschaft gezogen werden, wenn diese Straftäter trotzdem irgendwann bedingt entlassen werden und erneut ein schweres Gewaltverbrechen begehen.
Einheitlicher Einsatz von Fussfesseln
Über Anpassungen diskutiert auch die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD). Sie prüft den schweizweit koordinierten Einsatz von Electronic Monitoring. Dabei steht die Nutzung von Fussfesseln mit GPS-Sender im Vordergrund, so die «SonntagsZeitung». Auf Antrag des Tessiner Staatsrats Norman Gobbi befasst sich die «Kommission für Strafvollzug und Anstaltswesen» der KKJPD mit dem Thema. Dazu wird im Herbst eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen.
Der Zürcher Regierungsrat Martin Graf, der die Kommission leitet, geht von einer passiven GPS-Überwachung aus. Gegenüber der «SonntagsZeitung» sagt er: «Stellt man also fest, dass es jemand in Halbgefangenschaft mit den Zeiten nicht so genau nimmt, kann man nachverfolgen und beweisen, wo er wann war», sagt Graf. Aktive Echtzeitüberwachung wäre hingegen personalintensiv und darum sehr teuer.
http://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/Wenn-in-einem-Kanton-etwas-passiert-ducken-sich-alle/story/21824647