Da NZZ.CH l Tessiner Regierungspräsident Gobbi. Gewähre Italien den Schweizer Finanzdienstleistern nicht den vollen Marktzutritt, seien die Verhandlungen mit Rom abzubrechen, sagt Lega-Staatsrat Norman Gobbi.
Interview: Peter Jankovsky, Simon Gemperli
Herr Gobbi, als Regierungspräsident scheinen Sie so richtig aufzublühen.
Ich geniesse mein Amt als Staatsrat. Jeder Tag bringt gerade im Tessin neue Herausforderungen, das ist einfach spannend. Und ich habe das Glück, zu Beginn einer neuen Legislaturperiode Regierungspräsident zu sein: Das Setzen von Zielen motiviert mich total.
Welche Ziele haben Sie schon erreicht?
Die grenzüberschreitende Kriminalität ist im Tessin nachweislich zurückgegangen. Die Polizei ist präsenter und sichtbarer. Die Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden funktioniert in diesem Bereich sehr gut. Dasselbe gilt für die Kooperation zwischen Grenzwachtkorps und Polizei, nicht nur bei der grenzüberschreitenden Kriminalität, sondern auch beim Menschenschmuggel insbesondere.
Aber die Grenze zu Italien ist offen, auch für Kriminelle.
Das stimmt so nicht. Da wir nicht in der Zollunion der EU sind, gibt es weiterhin Kontrollen. Eine Motion von Nationalrätin Roberta Pantani, vom Bundesrat angenommen, will zudem bewirken, dass in Zukunft viele sekundäre Grenzübergänge in der Nacht geschlossen werden. Auf diese Weise könnten wir die Ressourcen effizienter auf den Hauptachsen einsetzen.
Zurzeit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge auf der Balkanroute. Die Südgrenze geriet aus den Schlagzeilen. Herrscht Ruhe vor dem Sturm?
Zurzeit gehen die meisten Flüchtlinge nach Österreich. Nach dem Wahlsieg der FPÖ in Oberösterreich ist es denkbar, dass auch Wien die Grenze schliesst. Die Flüchtlinge würden dann einen anderen Weg finden: über Triest nach Mailand und dann in die Schweiz. In diesen Tagen hat sich die Zahl der Migranten in Mailand erhöht.
Was bedeutet das für das Tessin?
Wien hat 2 Millionen Einwohner und ist mit der Ankunft von 30 000 Flüchtlingen pro Tag überfordert. Zum Vergleich: Chiasso hat 8000 Einwohner. Wenn 1000 Asylbewerber pro Tag eintreffen, müssen sie irgendwo übernachten, bis die erste Befragung stattfindet und sie auf andere Asylzentren verteilt werden können. Im Verfahrenszentrum in Chiasso hat es nur Platz für 300 Personen. Wir müssen Zivilschutzanlagen öffnen, notfalls auch Turnhallen.
Sind Sie für eine Kündigung des Schengen-Abkommens?
Ein Austritt aus Schengen-Dublin ist für mich eine Option. Man könnte sich davon auch eine Initialzündung für die Reformierung des Systems versprechen.
Was ist für das Tessin die grössere Herausforderung: die Flüchtlinge oder die Personenfreizügigkeit?
Die Personenfreizügigkeit. Hier haben die kantonalen Behörden kaum Spielraum, um an der Schraube zu drehen. Aber wir nützen jede Gelegenheit aus.
Sie sprechen von Ihrer Verfügung, dass Grenzgänger und B-Aufenthalter einen Strafregisterauszug vorweisen müssen, wenn sie eine Bewilligung beantragen?
Ja, zum Beispiel. Aber das ist keine Gobbi-Regelung. Der Grosse Rat hat auch diese Massnahme ausdrücklich unterstützt.
Wenn Sie von italienischen Grenzgängern einen Strafregisterauszug verlangen, ist das dasselbe, wie wenn die Zürcher Behörden von deutschen Grenzgängern einen Aids-Test verlangten. Einverstanden?
Nein. Wir haben konkrete Hinweise auf ausländische Personen mit Verbindungen zur organisierten Kriminalität. Wir wollen wissen, wer im Tessin arbeitet und wohnt. Das ist keine diskriminierende Massnahme.
Die Kriminalität ist aber bereits vor dieser Massnahme gesunken. Das zeigt doch, dass es sich vor allem um eine Schikane gegenüber den Grenzgängern handelt.
Dieser Schluss ist falsch. Erstens taucht die organisierte Kriminalität selten in der normalen Kriminalitätsstatistik auf. Und zweitens sind in unserem Kanton Grenzgänger sowie Italiener mit B-Bewilligungen öfter für Raubüberfälle und ähnliche Straftaten verantwortlich. Die Zahl der Grenzgänger – heute sind es mehr als 60 000 – geht im Übrigen nur bei einer konsequenten Anwendung der Zuwanderungsinitiative zurück.
In Liechtenstein sind 50 Prozent der Arbeitstätigen Grenzgänger. Die Einstellung der Bevölkerung ihnen gegenüber ist viel positiver als im Tessin.
Wenn die Grenzgänger Arbeiten übernehmen, welche die Einheimischen nicht wollen, gibt es keine Probleme. Das ist heute bei uns anders. Die Grenzgänger arbeiten immer mehr auch im Dienstleistungssektor.
Wie kann man die Situation verbessern?
Der Tessiner Staatsrat hat einen konkreten Vorschlag gemacht: die Einführung einer Arbeitsmarkt-Schutzklausel, dank der unter präzisen, messbaren Umständen in bestimmten Sektoren und regional begrenzt inländische Arbeitskräfte bevorzugt werden können. Er hat Professor Ambühl von der ETH Zürich das Mandat erteilt, konkrete Vorschläge zur Ausgestaltung einer solchen Schutzklausel auszuarbeiten. Wichtig ist zudem das soziale Verantwortungsbewusstsein der Unternehmen.
Sie spielen auf die Aufkleber an, mit denen die Unternehmen deklarieren, wie viele beziehungsweise wie wenige Grenzgänger bei ihnen arbeiten?
Zum Beispiel. Der Regierungsrat und der Grosse Rat haben dieses Labelling ausdrücklich unterstützt. Die Unternehmen realisieren übrigens, dass die Wertschöpfung im Tessin nicht durch billige Arbeit zustande kommt.
Mit solchen Massnahmen hindere der Kanton Tessin die Schweiz daran, mit Italien ins Reine zu kommen, heisst es in Bern. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Das kann ich. Aber das Problem ist, dass der Bundesrat alle guten Karten gespielt hat. Nun hat die schweizerische Delegation nichts mehr in der Hand.
Und was soll der Bundesrat jetzt tun?
Für unsere Finanzdienstleister wäre der volle Zugang zum italienischen Markt wertvoll. Aber das ist in den bilateralen Gesprächen mit Rom gar nicht vorgesehen. Ohne diesen Marktzugang sind diese Verhandlungen überflüssig, zumal das Grenzgängerabkommen nicht dem entspricht, was die Tessiner Regierung erwartet hat.
Ist der Abschluss eines Marktzutritts-Abkommens denn realistisch?
Nein, bilateral nicht. Italiens Finanzplatz verträgt keine direkte Konkurrenz aus der Schweiz. Wenn es eine Lösung gibt, dann über den Umweg eines Finanzdienstleistungsabkommens mit der EU.
Das heisst, der Bund soll die bilateralen Verhandlungen mit Italien im Fiskal- und Steuerbereich auf Eis legen?
Ja. Wir haben alle Anforderungen erfüllt, damit die Schweizer Firmen von den schwarzen Listen genommen werden. Wir haben die OECD-Standards erfüllt und das Bankgeheimnis gegenüber dem Ausland aufgehoben. Mehr Vorleistungen machen wir nicht.
Dank der Neat rückt das Tessin näher an die Deutschschweiz. Welche Vorteile sehen Sie für Ihren Kanton?
Das Tessin hofft, dass dadurch die Wirtschaft gestärkt wird und Arbeitsplätze geschaffen werden. Die Reisezeit von Bellinzona nach Zürich wird sich so deutlich verkürzen, dass auch viele Tages-Arbeitspendler denkbar sind. Anderseits könnten die italienischen Grenzgänger bis Zürich vordringen. Wenigstens würde man dann unsere Probleme mit ihnen besser verstehen.
Es könnte eine Sogwirkung entstehen.
Wenn sehr viele Tessiner als Arbeitspendler im Norden tätig wären, schliesse ich ein Nachrücken von noch mehr Grenzgängern nicht aus.
Bewirkt die Neat eine politische und gesellschaftliche Annäherung des Tessins an die Deutschschweiz?
Das ist keine Frage: Die Schweiz verdankt ihre Existenz der Gotthardachse. Eine Stärkung des Gotthards stärkt die Schweiz und deren inneren Zusammenhang. Als Leventiner und Drei-Achtel-Berner richtete ich den Blick stets auch nach Norden. Anderseits ging schon beim Bau der Gotthardbahn die Angst um, das Tessin würde germanisiert. Heute besteht eher die Befürchtung, die Tessiner Löhne würden wegen der vielen Grenzgänger «lombardisiert». Da ziehe ich den Druck aus dem Norden vor.
Sie sehen also die Annäherung eher als eine, die aus der Not geboren wurde.
Die Neat wird eine klare Folge haben: Wollen junge Tessiner ihre Chance auf dem Arbeitsmarkt packen, müssen sie Deutsch können. Dann sind sie im Vorteil gegenüber den Grenzgängern.
Ihr Kanton ist eine Schnittstelle zwischen zwei Kultur- und Wirtschaftsräumen. Die Tessiner sollten also Brückenbauer sein.
Das historische Bewusstsein der Tessiner ist folgendes: Wir sind ein Stück Schweiz in der Lombardei mit all seinen Vor- und Nachteilen als Schnittstelle. Bern sollte uns bei seinen Verhandlungen mit Rom einbeziehen – wenn jemand die Italiener versteht und durchschaut, dann wir Tessiner.
Die Lega und ihr Staatsmann
Der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi (38) stammt aus einer freisinnigen Leventiner Familie. Aber bereits mit 15 Jahren orientierte er sich an der Lega dei Ticinesi. Ab 1999 sass er für die Rechtspopulisten im Kantonsparlament und ab 2010 vorübergehend im Nationalrat, bevor er 2011 zum Staatsrat gewählt wurde. Er steht dem kantonalen Justiz- und Polizeidepartement vor. Gobbi ist ein guter Kommunikator: Er hat dieses Handwerk an Luganos Universität gelernt und als PR-Berater perfektioniert. Im Sommer hatte Gobbi angesichts der anhaltenden Flüchtlingswelle systematische Kontrollen an der Südgrenze verlangt. Überdies will Gobbi den Kriminalitäts-Tourismus aus Italien, vor allem im Hinblick auf das organisierte Verbrechen, weiter eindämmen. So verlangt er seit April von Ausländern, die eine Aufenthaltsbewilligung B oder G im Tessin beantragen, einen Auszug aus dem Strafregister. Diese Massnahme beurteilt der Bund als illegal, jedoch sind ihm aufgrund der kantonalen Kompetenz-Hoheit die Hände gebunden. Norman Gobbi stärkt den pragmatischen Flügel der Lega. Er gebärdet sich als veritabler Staatsmann, der darum bemüht ist, mit seiner Arbeit konkrete Resultate zu erzielen – ohne aber massiv von der Parteidoktrin abweichen zu müssen. Letztere propagierte bisher der rebellisch-polemische Flügel der Lega mit viel Getöse und eher wenig Taten. Seit 2011 sind zwei von fünf Tessiner Staatsräten Legisten. Zudem stellen die Rechtspopulisten in Lugano, der wirtschaftlich wichtigsten Tessiner Stadt, drei der sieben Stadtoberen. Wird da der aufmüpfige Lega-Flügel nicht zum Hemmnis? Man könne sehr gut mit beiden Fraktionen weitermachen, befindet Gobbi. Es gebe regelmässig Dispute, aber am Ende gehe auch der Protest-Flügel pragmatische Kompromisse ein. Wenn man mehr Regierungsverantwortung habe, müsse man handeln können.
http://www.nzz.ch/schweiz/verhandlungen-mit-rom-sind-ueberfluessig-1.18622353