Einen ehrgeizigen Plan hegt der Tessiner Staatsrat: Er will die Zahl der Gemeinden im Kanton von 135 auf 23 senken – doch die meisten Lokalpolitiker reagieren ablehnend. Schweizweit gehört das Tessin zu den Spitzenreitern in Sachen Fusion.
Peter Jankovsky, Locarno
Von zwei «Revolutionen» spricht die Tessiner Presse, was die Zusammenschlüsse von Gemeinden anbelangt. Seit der Jahrtausendwende steckt das Tessin mit seinen rund 330 000 Einwohnern wie kaum ein anderer Kanton im Fusionsfieber. Das bisherige Ergebnis: Gab es im Jahr 2000 noch 245 autonome Gemeinden, sind es heuer hundert weniger. Und 2020 soll es deren nur noch 23 geben – das ist die zweite «Revolution». Diesen Plan hat die Kantonsregierung ausgearbeitet und im November in die Vernehmlassung geschickt. Sie bezeichnet ihn als ein «epochales Vorhaben», das aber noch eine «Skizze» ist.
Vier Gründe führt der Staatsrat für seinen ehrgeizigen Plan an. Der Nord- und der Südteil des Kantons driften immer stärker auseinander: Seit 2004 wird Gross-Lugano dank häufigen Fusionen mit umliegenden Gemeinden immer grösser und dynamischer, während Gross-Locarno aufgrund mehrerer Volksabstimmungen mit ablehnendem Resultat vorerst ein Traum bleibt. Lugano wie auch Mendrisio entwickeln sich wirtschaftlich weiter, was für Locarno und das ebenfalls Fusionen anstrebende Bellinzona kaum gilt.
Geld ist das Problem
Dazu kommen etliche periphere Regionen des Südkantons, die noch deutlich weniger Dynamik aufweisen. Viele Gemeinden sind schlicht zu klein und leiden unter Geldmangel, manchmal vielleicht auch unter autokratischen Gemeindepräsidenten oder zerstrittenen Exekutiven und Legislativen – all dies kann einen guten Service public und den Ausbau der Infrastrukturen behindern. Im Gegensatz zu anderen Kantonen stellt sich im Tessin aber kaum je das Problem, dass es zu wenig Interessenten für das Amt des Gemeindepräsidenten oder für die Legislative hätte.
Aus Sicht der Regierung musste der Kanton vor allem im Hinblick auf kleine Gemeinden vielfach Aufgaben übernehmen, die eigentlich die lokalen Verwaltungen zu erledigen hätten. Daher sollen die Gemeinden wieder eigenständiger werden. In etlichen Gemeinden kam es laut Regierungspräsident Paolo Beltraminelli (cvp.) zur paradoxen Situation, dass von jedem Franken, der ausgegeben wurde, die lokalen Behörden höchstens über 40 Rappen bestimmen durften.
Ausserdem bereitet dem Staatsrat auch der kantonale Finanzausgleich Sorgen: Die betreffende Summe ist seit 2010 um 9 Millionen auf heuer 63 Millionen Franken angestiegen. Dank den geplanten Zusammenschlüssen sollten die neuen Gemeinden befähigt werden, ihre finanziellen Ressourcen selbständig zu verwalten und Infrastrukturen zu verbessern, hofft der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi (Lega), der im Hinblick auf besagtes Fusionsprojekt federführend ist. Daraus lässt sich allgemein folgern, dass auch die Kantonsverwaltung schlankere Strukturen erhalten könnte – und Geld sparen würde.
Vier Grossagglomerationen
Der Tessiner Staatsrat will also den Kanton umgestalten beziehungsweise neu entwerfen. Indem Gemeindegebiete deutlich wachsen, könnte das Auseinanderdriften der Regionen gebremst oder gar ausgeglichen werden. Und schliesslich soll diese «innere Stärkung» die wirtschaftliche Position des Südkantons gegenüber den grossen schweizerischen Agglomerationen verbessern.
Den Neuentwurf des Kantons stellt sich der Staatsrat folgendermassen vor: 4 der künftigen 23 Gemeinden sollen veritable Grossagglomerationen werden. Geplant ist, dass das künftige Lugano – das schon jetzt rein flächenmässig nach Zürich die zweitgrösste Schweizer Stadt ist – mehr als 92 000 Einwohner hat und sich von Morcote bis zum Val Colla erstreckt. Gross-Locarno soll von Brissago bis Cugnasco reichen und 50 000 Einwohner aufweisen; dieselbe Dimension könnten künftig auch Bellinzona und die Grossgemeinde Mendrisio-Chiasso haben. Lediglich in zwei autonomen Gemeinden würden weniger als tausend Personen leben, nämlich in den Talgemeinden Onsernone und Verzasca.
Kanton handelt eigenmächtig
Bei den Tessiner Lokalpolitikern überwiegt die Skepsis. Während die Stadtpräsidenten von Lugano, Bellinzona, Locarno und Mendrisio die Pläne der Kantonsregierung bejahen und lediglich den engen Zeitplan bemängeln, haben 26 Gemeindepräsidenten eine gemeinsame kritische Stellungnahme veröffentlicht. Ihnen stösst sauer auf, dass sie der Staatsrat nicht in die Ausarbeitung seines neuen Fusionsprojektes einbezogen hat. Laut der Stellungnahme entwarf der Kanton die Fusionspläne eigenmächtig «von obenherab» und ging nicht auf die regionalen Besonderheiten ein. Ausserdem missachtet der Staatsrat beispielsweise den Willen der Stimmberechtigten von Ascona, Muralto oder Minusio, die ein Zusammengehen mit Locarno mehrfach abgelehnt haben.
Das neue Fusionsprojekt belastet zusätzlich die bereits angespannten Beziehungen zwischen Kanton und Gemeinden. Der Staatsrat hat nämlich im Hinblick auf das zu erwartende Defizit des kantonalen Voranschlags 2014 vor, einen Teil der Last auf die Gemeinden zu übertragen. Daher wird jede zusätzliche Forderung nach grösserer finanzieller Eigenverantwortung negativ aufgenommen. Auch hegen einige Gemeindepräsidenten den Verdacht, der Kanton wolle sich auf Kosten der Gemeinden finanziell sanieren.
Weiter monieren die Gemeindepräsidenten die Kosten der geplanten Gross-Fusionen. Gemäss ihren Worten zeigt das Beispiel Lugano, dass Zusammenschlüsse teuer sind und langfristig zu einem merklichen Loch in der Gemeindekasse führen können. Zudem müssen sich neue Grossgemeinden mit einer Menge struktureller Probleme herumschlagen, die ebenfalls kosten. Schliesslich herrscht bei den meisten der 26 Tessiner Gemeindepräsidenten eine spezifische Angst vor: Die vier städtischen Agglomerationen würden noch mehr Dynamik entwickeln und die restlichen Regionen noch schneller hinter sich lassen. Vor allem ein künftiges «Super-Lugano» fürchten viele.
Glarner Modell als Vorbild?
Im Jahr 2011 war im Tessin eine andere Fusionsidee lanciert worden: Statt regionaler Konsultativabstimmungen solle ein verbindlicher kantonaler Volksentscheid gefällt werden – wie in Glarus. Dort ermöglichte eine Änderung der Kantonsverfassung die Reduktion der 25 Politischen Gemeinden auf deren drei. Dies hatte die Landsgemeinde 2006 beschlossen und 2007 bestätigt, und zu Anfang 2011 wurden die drei Grossgemeinden Glarus, Glarus Nord und Glarus Süd Realität. Dies stellt die einschneidendste Gebietsreform in der Schweiz dar.
Vom Glarner Modell liess sich 2011 der Tessiner Querdenker Giorgio Ghiringhelli inspirieren. Er hatte schon etliche kantonale Volksinitiativen gestartet und konnte heuer mit der Annahme des Verschleierungsverbotes durch das Tessiner Stimmvolk seinen grössten Erfolg verbuchen. Für eine kantonale Fusions-Abstimmung brachte er genügend Unterschriften zusammen, nämlich mehr als 11 500. Ghiringhelli wollte, dass bereits im Jahr 2017 die neuen städtischen Zentren Gross-Locarno (beidseits der Maggia) und Gross-Bellinzona Wirklichkeit werden. Doch das Kantonsparlament verwarf letzten Oktober Ghiringhellis Initiative: Es stellten sich unüberwindliche Probleme in Bezug auf übergeordnetes Recht, so die Begründung. Gegen diese Entscheidung hat Ghiringhelli nun Einsprache vor Bundesgericht erhoben.
Das Glarner Modell entstand aufgrund der Kleinheit des Kantons mit seinen etwa 38 000 Einwohnern und seiner besonderen geografischen Struktur, ermöglicht durch die besondere Dynamik einer Landsgemeindedemokratie. Ob es auf die Verhältnisse des Tessins oder anderer Kantone übertragbar wäre, bleibt fraglich.
Trend zu Fusionen ist stark
Im landesweiten Vergleich gehört das Tessin zu den fusionsfreudigsten Kantonen. Wie verschiedene Erhebungen zeigen, hat der grosse Trend zu Fusionen in der Schweiz im Jahr 2000 eingesetzt: Zusammenschlüsse von Gemeinden sind seit besagtem Jahr in 14 der 26 Kantone vollzogen worden, wobei überdurchschnittlich viele Fusionen in den Kantonen Tessin, Freiburg, Waadt, Graubünden und Wallis stattfanden. Hierbei hat das Tessin die grösste Zahl an zusammengelegten Gemeinden zu verbuchen, nachdem in den 1990er Jahren der Kanton Freiburg Spitzenreiter gewesen war.
Auch heuer erwies sich die Tendenz zu Gemeindefusionen als ungebrochen. Noch zu Beginn dieses Jahres zählte die Schweiz laut dem Bundesamt für Statistik 2408 Gemeinden – 56 davon geben nun auf den 1. Januar 2014 ihre Autonomie auf. Seit dem Jahr 2000 kam es zu einer Abnahme von 547 Gemeinden, nachdem zwischen 1990 und 2000 «bloss» 122 Gemeinden verschwunden waren. Im Jahr 1860 wies die Schweiz mit 3146 Verwaltungseinheiten den Höchstbestand an Gemeinden auf.
Gross-Luzern muss warten
Gemäss einer Studie der Universität Bern überlegt sich heute jede zweite Gemeinde eine interkommunale Zusammenarbeit, um ihre künftigen Aufgaben bewältigen zu können. Derzeit sind laut dem Bundesamt für Statistik schweizweit Fusionsprojekte in fast 200 Gemeinden in Abklärung.
Doch nicht überall finden Fusionen, die im Trend sind, Anklang, wie das Beispiel Luzern zeigt. Im Jahr 2010 schlossen sich die Stadt und die Anrainergemeinde Littau zusammen, so dass Luzern mit rund 77 000 Einwohnern zur siebtgrössten Schweizer Stadt wurde. Doch der Ehrgeiz Luzerns ist noch grösser: Langfristig sollen alle Agglomerationsgemeinden mit der Stadt fusionieren. Dann entstünde ein Gross-Luzern mit etwa 180 000 Einwohnern. Dagegen begann sich Widerstand zu regen, der 2011 Früchte trug: In jenem Jahr lehnten Emmen, Kriens, Ebikon und Adligenswil an der Urne Fusionsverhandlungen mit der Stadt Luzern ab. Damit muss Gross-Luzern noch warten – etwa zwei Jahrzehnte, meinen viele.
http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/tessiner-regierung-will-den-kanton-neu-entwerfen-1.18209972