Tessiner Hilferuf als Stimmenfänger

Tessiner Hilferuf als Stimmenfänger

Da NZZ.CH l Zum grossen Ärger Italiens müssen Grenzgänger im Tessin seit April Auszüge aus dem Strafregister vorweisen. So setzt Lega-Staatsrat Gobbi ein typisches Malaise geschickt in Szene – auch mit Blick auf die nationalen Wahlen.

«Avviso» (Hinweis) steht mit augenfällig roter Schrift auf der Internet-Seite der Tessiner Einwohnerkontrolle. Alle Ausländer, die eine Aufenthaltsbewilligung B oder G erhalten oder erneuern wollen, müssen seit April mehr Aufwand betreiben. Sie haben einen Auszug aus dem Strafregister ihres Landes in Kombination mit einem Beleg über laufende Verfahren vorzulegen; beide Papiere dürfen höchstens drei Monate alt sein. «B» steht für eine zunächst befristete Aufenthaltsbewilligung für Ausländer, die länger in der Schweiz bleiben wollen, «G» steht für Grenzgänger. In beiden Fällen sind vor allem Italiener betroffen – insbesondere die «Frontalieri», da über 60 000 von ihnen täglich zur Arbeit ins Tessin strömen.

Die Verschärfung verfügte in eigener Kompetenz der Chef des Tessiner Justiz- und Polizeidepartements Norman Gobbi. Der beliebte Exponent der Lega dei Ticinesi begründete dies mit dem Missbrauch des freien Personenverkehrs. Gobbi erwähnte unter anderem einen der Mafia nahestehenden italienischen Arbeiter sowie einen vorbestraften B-Aufenthalter, der an einem Raubüberfall teilgenommen haben soll. Damit stellte der Tessiner Magistrat einen Zusammenhang her mit der seit langem bestehenden Angst vor Kriminaltourismus aus Italien, aber auch mit der Masseneinwanderungsinitiative. Ausserdem müssen die Grenzgänger mehr Quellensteuer bezahlen: Letztes Jahr hatte der Tessiner Grosse Rat entschieden, den betreffenden Steuerfuss auf Gemeindeebene von 78 auf 100 Prozent zu erhöhen, um Mehreinnahmen von jährlich 20 Millionen zu generieren.

Italien reagiert verstimmt
Kein Wunder gibt es zwischen dem Tessin und Italien wieder laute Misstöne. Rom lud den Schweizer Botschafter vor, und die beiden Exponenten der lombardischen Lega Nord, Roberto Maroni und Lara Comi, zeigten sich hoch erbost: Beide stammen aus dem Grenzgebiet zur Schweiz und zählen viele Grenzgänger zu ihren Wählern. Italien wirft der Schweiz vor, dass der Kanton Tessin Bestimmungen zur Personenfreizügigkeit missachte und die Grenzgänger gängle. Daher strengt Rom bei der EU-Kommission ein Verfahren gegen die Schweiz an. Als Präsident der Region Lombardei erinnerte Maroni das Tessin an dessen starke Abhängigkeit von den Frontalieri, und EU-Parlamentarierin Comi drohte als ultima ratio mit einem Gang vor den Europäischen Gerichtshof.

Vor allem Letzteres bleibt aus juristischer Sicht bloss heisse Luft. Doch der Ärger Italiens zeigt die Sensibilität, mit welcher man jede Änderung bei der Behandlung der Grenzgänger im Tessin reagiert. Dies weiss auch Bern, das seit der Unterzeichnung des Doppelbesteuerungsabkommens mit Italien letzten Februar das Tauwetter zwischen den beiden Staaten weiter fördern will. Das Staatssekretariat für Migration erklärte Gobbis Vorgehen als unvereinbar mit dem europäischen Gemeinschaftsrecht und forderte diesen auf, seine Massnahme rückgängig zu machen. Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga betonte Anfang Juli während des Bundesratsausfluges in Bellinzona, eine Konfrontation ergebe keinen Sinn.

Gobbis Antwort hat das Zeug zum Bonmot: Kein Grenzgänger habe bisher Rekurs gegen die systematische «vorläufige Polizeimassnahme» eingereicht. Weiter ermutigt fühlt sich Gobbi laut dem «Corriere del Ticino» durch die Rechtskommission des Kantonsparlaments. Diese erwägt die Empfehlung, einen Vorstoss des Lega-Nationalrats Lorenzo Quadri von 2008 wieder aufzugreifen und nach Bern zu tragen, der Ähnliches verlangte – mit dem Hintergedanken, diesen Punkt in die Verhandlungen mit Brüssel über die Umsetzung der Einwanderungsinitiative einzubringen. Doch das wirkt gar sehr optimistisch, hat doch der Nationalrat im Mai eine Motion Quadris abgelehnt, in welcher der Legist seinen eigenen Vorstoss von 2008 aufgreifen wollte. Dazu kommt, dass 2013 auch die Tessiner FDP eine ähnliche Motion auf Kantonsebene einreichte, die vom Staatsrat und damit auch Gobbi abgewiesen sowie von Bundesbern kritisiert wurde.

Gobbi macht gezielt Druck
Regierungsrat Gobbi gehört zum pragmatischen Flügel der rechtspopulistischen Lega und gilt als umsichtiger Staatsmann. Warum also prescht er heuer auf diese Weise vor? Er gibt dem typischen Tessiner Malaise Ausdruck: Jede vierte Arbeitsstelle im Südkanton wird von einem «billigen und willigen» Grenzgänger besetzt, und die stetig wachsende Zahl der Frontalieri bewirkt immer massiveres Dumping punkto Lohn- und Arbeitsbedingungen – auch für heimische Arbeitskräfte. Dazu gesellen sich der zunehmende Kriminaltourismus aus Italien sowie das Gefühl, Bundesbern stehe den Forderungen des Tessins, dessen spezifische Probleme zu lösen, wieder einmal ablehnend gegenüber. Weil zudem das Tessin am 9. Februar 2014 die Einwanderungsinitiative mit 68,2 Prozent am deutlichsten von allen Kantonen annahm, haben besagte Forderungen seither zugenommen. Es handelt sich um verklausulierte Hilferufe an Bundesbern.

Mit seinem neuesten Hilferuf übt Staatsrat Gobbi aber auch Druck aus, was die konkrete Ausarbeitung des neuen Grenzgängerabkommens betrifft. Dieses ist an das Doppelbesteuerungsabkommen gekoppelt, welches Bern und Rom Ende Februar 2015 unterschrieben, und soll aufgrund einer rigoroseren Besteuerung möglichst viele Frontalieri abschrecken. Für Tessiner Begriffe geht die Ausarbeitung zu schleppend voran. Weil nun die Lega und die Tessiner SVP punkto nationale Wahlen im Herbst eine Listenverbindung eingehen und den Schwerpunkt auf die Umsetzung der Einwanderungsinitiative legen, erscheint Gobbis Vorpreschen als geschickter Schachzug im Wahlkampf. Doch den Hilferuf auch als Stimmenfänger einzusetzen hat indes einen Nachteil: Kaum hat sich dank dem Steuerabkommen die langjährige Verstimmung zwischen Bern und Rom gemildert, erklingen neue Misstöne – die Lega frönt bei internationalen Befindlichkeiten ihrer alten Provokationslust.

Eine erste Bilanz über seine vorläufige Massnahme will Gobbi im Herbst ziehen. Ob vor oder nach dem nationalen Wahlsonntag, bleibt abzuwarten.

http://www.nzz.ch/schweiz/tessiner-hilferuf-als-stimmenfaenger-1.18590207

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