Im Grenzkanton Tessin nehmen die Straftaten zu, die Gefängnisse sind am Anschlag. Die Hoffnungen liegen in der Westschweiz. Doch eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht.
Die Tessiner Justiz hat ein akutes Problem: Sie findet kaum noch Platz für ihre Angeklagten und vor allem Verurteilten. Der Südkanton verfügt über drei Haftanstalten, die sich alle in der Agglomeration Lugano befinden. Derzeit sind die 159 Plätze im regulären Gefängnis La Stampa voll belegt, ebenso die 88 Plätze im Untersuchungsgefängnis La Farera. Von den 45 Plätzen im offenen Strafvollzug Lo Stampino sind nur 6 frei.
Ende Dezember sah die Situation noch anders aus. Damals waren im Tessin erst 83 Prozent der insgesamt 292 Gefängnisplätze belegt. Dies geht aus der Statistik des Schweizerischen Kompetenzzentrums für den Justizvollzug hervor. Danach lag die Auslastung im Südkanton im vergangenen Jahr zwischen 80 und 88 Prozent, während sie gesamtschweizerisch zwischen 89 und 94 Prozent lag.
Die Situation im Süden hat sich also im letzten Monat massiv zugespitzt. Die Tessiner Gefängnisse sind voll. Zu denken gibt, dass die Behörden darin keine vorübergehende Spitze sehen und auch keine Trendwende erwarten. Es häuften sich ganz bestimmte Arten von Straftaten, erklärt der Regierungsrat und Justizdirektor Norman Gobbi. Dies liege daran, dass der Grenzkanton Tessin die wichtigste Transitregion zwischen Nord und Süd sei.
Damit meint Gobbi vor allem folgende drei Deliktarten: Drogenhandel, Einbrüche im Grenzgebiet und Straftaten im Zusammenhang mit der Migration. In diesen Bereichen ist es zu breit angelegten Polizeiaktionen gekommen, die eine grössere Zahl von Personen hinter Gitter gebracht haben. Alles in allem ist die Kriminalität aber nicht gestiegen. Stattdessen werden eher Straftaten begangen, die zwingend mit einer Gefängnisstrafe verbunden sind.
Spitzenreiter sind die Drogendelikte. Derzeit sitzt rund die Hälfte der im Tessin inhaftierten Personen wegen Handels oder Schmuggels von Drogen ein. Oder wegen der Beschaffungskriminalität, die sich auch in Überfällen auf Tankstellen äussert. Das Problem sei geografisch bedingt, sagt Andreotti, Leiterin des kantonalen Justizamtes. Steige der Drogenkonsum in den Grossagglomerationen nördlich und südlich des Tessins, würden auch mehr Drogen im Kanton selber auftauchen. «Das Tessin ist eine sehr stark genutzte Transitzone für Drogenkuriere», so Andreotti.
Häftlingsverlegung in die französische Schweiz
Die letzten sechs freien Gefängnisplätze befinden sich alle im offenen Vollzug und werden wohl bald besetzt sein. Da auch das Untersuchungsgefängnis voll belegt ist, könnte man noch einige Polizeizellen in Anspruch nehmen, aber nur für kurze Zeit. Eine Lösung könnte in der Mitgliedschaft des Tessins beim Strafvollzugskonkordat der lateinischen Kantone liegen. Das heisst, bei Voll- oder Überbelegung dürfen einzelne Häftlinge in Anstalten der französischen Schweiz gebracht werden.
Der Haken: Auch die Gefängnisse der Romandie sind am Anschlag. Für eine Häftlingsverlegung aus dem Tessin müssten normkonforme Haftplätze zur Verfügung stehen, sagt der Sekretär des lateinischen Konkordats Blaise Péquignot. Aber er bestätigt, dass die Gefängnisse dieses Konkordats insgesamt zur Überbelegung tendieren. Das zeigt auch die Statistik: Ende Dezember waren die Haftanstalten der Romandie und des Tessins zusammen zu 101 Prozent ausgelastet. Einige Gefängnisse des Kantons Genf waren im Schnitt mit 109 Prozent und einige des Waadtlandes mit 115 Prozent deutlich überfüllt.
Daher sollte sich das Tessin eher an die Deutschschweiz richten, was schon in der letzten Zeit der Fall war. Einweisungen sind laut Stefan Weiss, dem Sekretär der Deutschschweizer Strafvollzugskonkordate, im Einzelfall möglich. Jedoch bestehen einige bürokratische Schwierigkeiten, zum Beispiel die unterschiedliche Landessprache im Aktenverkehr. Ausserdem sind gemäss Weiss derzeit auch die Deutschschweizer Gefängnisse stark ausgelastet. Noch Ende Dezember wies die Statistik für die Deutschschweiz insgesamt eine Belegung von 87 Prozent aus. In bestimmten Haftanstalten einzelner Deutschschweizer Kantone war die Auslastung aber 100 Prozent oder höher.
Rekrutierung von Personal aus anderen Kantonen
Um die überfüllten Tessiner Gefängnisse schnell zu entlasten, gelangt in letzter Zeit bei leichteren Fällen vermehrt der Hausarrest mit elektronischem Fussband zur Anwendung. Zudem wird die Einführung von Haftcontainern geprüft, wie sie in einigen Deutschschweizer Gefängnissen zum Einsatz kommen.
Die Erfahrungen mit solchen Containern sind allerdings unterschiedlich. Ihr Einsatz muss laut dem Konkordatssekretär Weiss immer im Einzelfall genau geprüft werden, um den tatsächlichen Nutzen und eine ausreichende Sicherheit im Verhältnis zu den hohen Kosten zu erkennen. Das Tessiner Justizdepartement plant deshalb, eine solche Anstalt zu besuchen, um die Machbarkeit und die maximal mögliche Platzzahl abzuklären. Auch dies wäre jedoch nur eine Übergangslösung.
Schwierigkeiten hat das Tessin auch mit dem Gefängnispersonal im Bereich der Untersuchungshaft. Während früher ein Aufseher durchschnittlich 15 Insassen betreute, sind es heute doppelt so viele. Die Behörden erwägen deshalb, ehemalige Aufseher zu rekrutieren und geschultes Personal aus anderen Kantonen anzustellen.
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