Da Neue Luzerner Zeitung l Die Kritik aus Bern lässt Norman Gobbi kalt. Der Tessiner Regierungsrat denkt nicht daran, bei Ausländern auf das Einholen von Strafregisterauszügen zu verzichten.
Am Anfang steht ein Raubüberfall von Ende März auf eine Tankstelle in No- vazzano. Zum wiederholten Mal befin- den sich unter den Tätern vorbestrafte Italiener mit Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Der Tessiner Sicherheits- direktor und Regierungsratspräsident Norman Gobbi (Lega dei Ticinesi) ord- net daraufhin eine spezielle Massnahme an. Seit April müssen alle Ausländer, die um eine Grenzgänger- oder Aufenthalts- bewilligung ersuchen, dem Tessiner Migrationsamt einen Strafregisterauszug zeigen und laufende Strafverfahren of- fenlegen. Dies diene der Sicherheit des Kantons Tessins, sagt Gobbi. Roberto Maroni hingegen, Präsident der Lom- bardei, taxiert Gobbis Aktion als anti- italienische Schikane.
Verstoss gegen Abkommen?
Politisch schwerwiegender als ein verschnupfter Nachbar ist der Rüffel aus dem Departement von Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP). In einem Brief teilte das Staatssekretariat für Mi- gration (SEM) dem Lega-Mann vor ei- nigen Wochen mit, das flächendecken- de Einholen von Strafregisterauszügen verletzte das Personenfreizügigkeitsab- kommen und sei unzulässig. In der Tat dürfen die Migrationsämter demnach nicht systematisch Dokumente verlangen, die Aufschluss über eine allfällige kriminelle Vergangenheit geben. Doch dies kümmert Gobbi bis jetzt ebenso- wenig wie die Kritik aus der Bundes- hauptstadt. Will heissen: Der Kanton Tessin verlangt von Grenzgängern und Ausländern nach wie vor einen Straf- registerauszug – und wird dies vorläufig auf unbestimmte Zeit weiterhin tun. Dies bestätigte Norman Gobbi auf An- frage unserer Zeitung.
Gobbi: «Wir handeln korrekt»
Laut Gobbi verstösst der Kanton Tes- sin keineswegs gegen das Personenfrei- zügigkeitsabkommen. Ein Passus besagt nämlich, dass aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit gewisse Rechte der EU/Efta-Bürger eingeschränkt werden müssen. Gobbi stuft die Gefahr, dass sich im Kanton Tessin Ausländer mit Kriminalitätshintergrund niederlas- sen, als genug gross ein, um flächen- deckend Strafregisterauszüge einzufor- dern. «Wir handeln korrekt», sagt Gobbi. Insbesondere viele kriminelle Italiener würden versuchen, sich mit der Verle- gung des Wohnsitzes in die Schweiz einem Strafverfahren zu entziehen. «Mit dieser Realität sind wir konfrontiert», sagt Gobbi. Er wird seine Position dem- nächst in einem Antwortschreiben an das SEM vertreten. Zudem verlangt die Tessiner Gesamtregierung ein Gespräch mit der Landesregierung. Als diese während seiner Bundesratsreise einen Ab- stecher in den Kanton Tessin machte, übergab ihr Gobbi ein Dokument mit diversen Themen. Unter anderem soll auch die Geschichte mit den Strafregis- terauszügen zur Sprache kommen. Som- maruga, vielleicht in Ausflugsstimmung, zeigte sich offen für Tessiner Anliegen. «Unser Besuch ist auch ein politisches Signal. Wir wollen hören, was die Leute bewegt», sagt sie.
Bundesrat könnte einschreiten
Die freundlichen Worte der Justiz- ministerin ändern jedoch nichts daran, dass der Kanton Tessin in ihren Augen derzeit Bundesrecht missachtet. Kann also Bern die aufmüpfigen Tessiner irgendwie sanktionieren? Laut dem emeritierten St. Galler Staatsrechtspro- fessor Rainer J. Schweizer ist dazu jedenfalls nicht das Staatssekretariat für Migration befugt. «Meiner Ansicht nach kann nur der Gesamtbundesrat eine solche Aufsichtsmassnahme anord- nen», sagt Schweizer. Er verweist auf Artikel 186 in der Bundesverfassung, gemäss dem der Bund für die Einhal- tung des Bundesrechts durch die Kan- tone zu sorgen hat.
Schweizer zeigt durchaus Verständnis für Gobbi. «Dass er sich dagegen wehrt, dass Kriminelle aus Italien im Kanton Tessin wohnen und sich so der Straf- verfolgung in Italien entziehen wollen, ist nachvollziehbar», sagt er. Allerdings obliege es dem Bund, Massnahmen wie das Einfordern von Strafregisterauszü- gen anzuordnen. «Die generellen Regeln kann nur der Bundesrat erlassen, den Kantonen bleibt die Ausführungskom- petenz im Einzelfall», sagt Schweizer. Er glaubt nicht, dass die Situation derart eskaliert, dass der Bund ein Machtwort spricht und die Massnahme aufhebt. «Bund und Kantone werden nach rechtskonformen Lösungen suchen», ist Schweizer überzeugt.
Voraussichtlich im Herbst will Lega- Regierungsrat Gobbi evaluieren, was das Einholen der Strafregisterauszüge ge- bracht hat. Ob er danach auf die kont- roverse Massnahme verzichten wird, ist offen.
KARI KÄLIN, NLZ 13.07.2015 (guarda la pagina PDF: NLZ_13072015_tessin )