Da Basler Zeitung l Verstopfte Strassen, Lohndumping, Flüchtlingsströme – der Südkanton hat genug und wehrt sich.
Auf dem Weg ins Stadtzentrum von Lugano bleibt der Bus in einer Einbahnstrasse stehen. Ein am Strassenrand geparktes Auto blockiert die Weiterfahrt. Der Buschauffeur hupt zweimal; sofort kommt die Besitzerin des Autos angerannt und fährt weg. «Wir sind doch hier nicht in Italien, wo man es gewohnt ist, das Auto auf der Strasse stehen zu lassen», ruft ein Fahrgast im Bus. Als ich später dem Tessiner Regierungspräsidenten Norman Gobbi davon erzähle, lacht er und fragt nach dem Kennzeichen.
Der Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements stichelt gerne gegen das südliche Nachbarland. Die Italiener seien nicht mit anderen Europäern zu vergleichen, sagt er. Nicht aus menschlicher Sicht. Sie hätten aber eine andere Mentalität, eine andere Einstellung zu Regeln und Gesetzen. Sie nähmen es nicht so genau. «Wir Tessiner sind anders. Wir sind stur und diszipliniert wie alle Schweizer, wenn auch nicht immer», erklärt Gobbi auf Italienisch und betont dabei das Adjektiv stur, indem er es auf Deutsch sagt.
Anders als die Italiener zu sein, darauf legen die Tessiner grossen Wert. Doch so sehr sie sich bemühen, ihre Ähnlichkeiten zu den Deutschschweizern und die Unterschiede zu den Italienern hervorzuheben, gibt es ausser der Sprache dennoch einiges, was an den südlichen Nachbarn erinnert. In der Sache mögen die Tessiner zwar genauso pingelig und korrekt sein wie die Deutschschweizer, nicht aber in ihrem Auftritt und im Umgang. Alles ist weniger offiziell, ungezwungener.
Bei meiner Ankunft in der Residenza Governativa, dem Vewaltungsgebäude auf der Piazza Governo in Bellinzona, fragt mich Norman Gobbis Sekretärin, ob ich etwas trinken möchte. Wenig später serviert sie mir mein Wasser – in einem weissen Plastikbecher. Die schwarzen Tische im Sitzungszimmer, auf denen eine feine Staubschicht liegt, sind leer. Keine Kaffeetassen, keine Gläser, kein Mineralwasser. Gobbis Assistentin setzt sich zu mir und stützt das Knie in die Hände. Wir unterhalten uns wie alte Bekannte. Sie ist beim Gespräch mit Gobbi dabei. Schreibt nicht mit, hört nur zu.
Unbeliebte «Frontalieri»
Über 60 000 Italiener arbeiten im Tessin. Die «Frontalieri», Grenzgänger, sind nicht sonderlich beliebt. Sie verstopften die Strassen, nähmen den Einheimischen die Arbeitsplätze weg und «benehmen sich, als wären sie hier zu Hause», heisst es. Dass die Tessiner diese Situation nicht länger dulden wollen, zeigten sie mit ihrer deutlichen Zustimmung zur Zuwanderungs-Initiative der SVP – fast 70 Prozent sagten im Februar vor einem Jahr Ja.
In einem Café auf der Piazza Collegiata in Bellinzona komme ich mit Michela ins Gespräch. Sie ist 31 Jahre alt und arbeitet als Kommunikationsbeauftragte in Bellinzona. «Mich stört vor allem der ewige Stau», sagt sie. Sie sei jeden Tag von Coldrerio, das nahe bei der Grenze zu Italien liegt, mit dem Auto zur Arbeit gefahren: «Das war schrecklich, ich musste eine zusätzliche Stunde Arbeits- und Heimweg einkalkulieren.» Sie sei deshalb nach Lugano gezogen. Von der angespannten Situation auf dem Arbeitsmarkt merke sie hingegen nichts. Sie habe nach dem Studium sofort eine Stelle gefunden. Einige Bekannte von ihr, ebenfalls Hochschulabsolventen, hätten aber das Tessin verlassen müssen und in Zug oder Zürich eine Anstellung gefunden.
Die Tessiner beschweren sich darüber, dass ihre Anliegen in Bundesbern kein Gehör finden. Mit Lega-Politiker Gobbi ist nun aber jemand an der Spitze, der weder überhört noch übersehen werden kann. Der 38-Jährige steht im Türrahmen, den er nahezu ausfüllt – sowohl in der Breite als auch in der Höhe. Den Rücken zum Sitzungszimmer gewandt, ruft er einer seiner Mitarbeiterinnen in Tessiner Dialekt noch etwas zu und betritt dann den Raum. «Ben arrivata», begrüsst er mich mit tiefer Stimme.
«Manchmal muss man den Leuten auf die Nerven gehen, um etwas zu erreichen», sagt Gobbi. Das tut er: Im April beschloss er, dass alle Ausländer, die im Tessin eine Aufenthaltsbewilligung B (befristet) oder G (Grenzgänger) wollen, einen Auszug aus dem Strafregister ihres Landes samt Beleg über laufende Verfahren vorlegen müssen. Diese Massnahme folgt auf die Erhöhung der Quellensteuer, die der Tessiner Grosse Rat bereits 2014 verabschiedet hatte. Neu wird der betreffende Steuerfuss auf Gemeindeebene von 78 auf 100 Prozent erhöht.
Damit verärgert Gobbi in erster Linie die Politiker in Rom, aber auch Bundesbern, das kein Interesse daran hat, die ohnehin schon schwierige Beziehung zwischen der Schweiz und Italien weiter zu strapazieren. Schon gar nicht jetzt, wo das bereits unterzeichnete Doppelbesteuerungsabkommen mit Italien auf der Zielgeraden ist.
Diskussion über Schutzklausel
Dies war wohl auch der Hauptgrund, dass Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf (BDP), begleitet von EU- Chefunterhändler Jacques de Watteville und Mario Gattiker, Staatssekretär für Migration, letzte Woche der Tessiner Regierung einen Besuch abstattete. Als offiziellen Grund für das Treffen nannte der Bundesrat «Klärungen vor der Schlussphase der Verhandlungen zum Grenzgängerabkommen mit Italien». Im Klartext: die Tessiner Regierung, aber vor allem Norman Gobbi zur Räson zu zwingen.
Dieser lässt sich aber nicht einschüchtern. Die Massnahmen seien gut überlegt gewesen, sagt Gobbi, eine logische Reaktion auf die damalige und die aktuelle Situation. «Es ist nicht so, dass wir Tessiner morgens mit einer Idee aufstehen und diese dann gleich umsetzen.» Mit der Erhöhung des Steuerfusses auf Gemeindeebene soll der Tessiner Arbeitsmarkt für die einheimischen Arbeitskräfte gestärkt werden.
Aktuell ist jeder vierte Arbeitnehmer im Tessin Grenzgänger und jeder zweite Ausländer. Zudem siedeln sich in den letzten Jahren immer mehr italienische Firmen an. Sie profitieren vom unbürokratischen Umgang mit den Schweizer Behörden, von tiefen Steuern und schnellen Bewilligungen. Im Zusammenhang mit der Umsetzung der Zuwanderungs-Initiative diskutiert der Südkanton deshalb über eine Arbeitsmarkt-Schutzklausel. Diese erlaubt es, die Personenfreizügigkeit im Grundsatz zu erhalten, gleichzeitig jedoch gezielte und begrenzte Interventionen in Ausnahmesituationen zu ermöglichen.
Es gehe auch darum, so Gobbi, die Region und somit auch den Rest der Schweiz vor kriminellen Organisationen zu schützen. Vor der Einführung des freien Personenverkehrs sei es völlig normal gewesen, dass Grenzgänger einen Strafregisterauszug vorlegen mussten. «Ich verstehe die Aufregung nicht», sagt Gobbi und lehnt sich gemächlich im Stuhl zurück. Die direkt Betroffenen, also die Grenzgänger, hätten sich bisher nicht dagegen gewehrt. Und die Tessiner Bevölkerung sei auch damit einverstanden. Offensichtlich störe es nur die Politiker in Bern und in Rom. «Doch die Probleme werden weder in Bern noch in Rom gelöst. Die lösen wir hier vor Ort.»
Selbst ist der Tessiner. Nach diesem Motto handelt auch Mauro Antonini: «Wir können nicht in jedem Fall warten, bis uns jemand eine Lösung präsentiert. Zusammen mit dem Kommando in Bern suchen wir selber nach Lösungen und handeln danach.» Der Kommandant des Grenzwachtkorps der Region IV steht in seinem Büro in Lugano-Paradiso vor einer Skizzentafel. «Sehen Sie, hier sind noch die Schritte der letzten Aktion im Kampf gegen die Schlepper aufgeführt.» Die vielen Grenzgänger sind nicht das einzige Problem des Südkantons. Zurzeit reisen jeden Monat zwischen 1200 und 1800 Flüchtlinge über Italien in die Schweiz ein. An den Wochenenden müssen die Zollbeamten am Bahnhof Chiasso täglich zwischen 60 und 80 Fälle behandeln; die meisten kommen mit dem Zug an.
«Gib nicht auf»
In Zusammenarbeit mit dem Grenzwachtkorps hat die Tessiner Kantonspolizei nun eine Taskforce gegründet mit dem Ziel, Schleppernetzwerke zu zerschlagen. Dabei werden suspekte Bewegungen an der Grenze analysiert. Es konnten bereits einige Leute verhaftet werden. Antonini ist überzeugt: «Das ist der richtige Ansatzpunkt. Wir müssen diesen Banden klarmachen, dass man bei uns nicht durchkommt.»
80 Prozent der Flüchtlinge, die meisten sind Eritreer, stellen ein Asylgesuch und werden nach der Erstkontrolle an das Empfangs- und Verfahrenszentrum des Staatssekretariats für Migration weitergeleitet. Die übrigen werden gemeinsam mit den italienischen Behörden nach Italien zurückgeschafft. Um die Situation bewältigen zu können, bekommt das Grenzwachtkorps wöchentlich Verstärkung von zehn bis zwanzig Personen aus anderen Regionen. Von einer Krisensituation will der Kommandant dennoch nicht sprechen. «Dank motivierten Leuten, Besonnenheit und entsprechender Infrastruktur haben wir die Lage unter Kontrolle», sagt er.
Politisch mag sich Antonini nicht äussern. Auch nicht zu den Grenzgängern. Das solle Norman Gobbi tun. Übrigens ein guter Kumpel von ihm. Ich solle ihn doch bitte grüssen und ihm dies überreichen: Er greift zu einer kleinen, weissen Schachtel, die einen bedruckten Caran-d’Ache-Kugelschreiber enthält. Darauf schreibt er in Tessiner Dialekt: «Gib nicht auf.»
Von Alessandra Paone, Basler Zeitung ePaper