Da NZZ.ch, 14 agosto 2016 | Können in Chiasso alle asylwilligen Migranten einen Antrag stellen, oder bringt man zu viele von ihnen gleich nach Italien zurück? Dies ist einer der Streitpunkte an der Schweizer Südgrenze.
Das wilde Flüchtlingscamp in der norditalienischen Grenzstadt Como scheint zu wachsen: Sprach man letzte Woche von 500 Migranten, berichten regionale Medien nun von weiteren hundert Ankömmlingen, die am Bahnhof Como San Giovanni biwakieren – vor knapp einem Monat waren es noch wenige Dutzend gewesen. Jetzt erheben einige Regionalpolitiker ihre Stimme gegen die Schweiz. Die meisten Migranten wollten weiter nach Deutschland oder Skandinavien, also sollte man ihnen die Durchreise gewähren – doch der Kanton Tessin blockiere sie, lautet beispielsweise der Vorwurf des Regionalparlamentariers Francesco Dotti von den nationalkonservativen Fratelli d’Italia.
Im Verlauf des Sonntagvormittags habe die Schweizer Grenzwacht bis zwölf Uhr 102 sich illegal in Chiasso Aufhaltende aufgegriffen, sagt der Tessiner Polizei- und Justizdirektor Norman Gobbi (Lega), um die Situation zu illustrieren. Laut seinen Worten stellte etwa ein Drittel von ihnen einen Asylantrag, der Rest wurde nach Italien zurückgebracht. Dies erfolgt gemäss dem Dublin-Abkommen sowie dem schweizerischen Ausländergesetz. Rückweisungen von etwa 50 Prozent bis zu zwei Dritteln sind nach Gobbis Einschätzung der derzeitige Trend. Im Juli hätten von rund 6300 aufgegriffenen rechtswidrig Eingewanderten etwa 2700 ein Asylgesuch gestellt.
Eine Massenabfertigung?
Doch einige SP-Exponenten hegen Zweifel. Ihr Eindruck sei, dass sehr viele Migranten in Chiasso abgewiesen würden, die nachweislich Verwandte in der Schweiz hätten, meint die Tessiner SP-Vizepräsidentin Beatrice Reimann. Sie hat kürzlich alt Bundesrätin Ruth Dreifuss für einen Augenschein nach Como begleitet. Die Abweisungen seien trotz vorgezeigten Schweizer Adressen und korrekten Reisedokumenten erfolgt. Hierzu habe die in Como tätige Tessiner Hilfsorganisation Firdaus etliche Belege gesammelt.
Wie alt Bundesrätin Dreifuss findet auch Reimann, dass an der Südgrenze eine Massenabfertigung im Gange sei. Obschon Migranten den Begriff «Asyl» erwähnt hätten, seien sie vielfach nicht angehört worden. In den Augen der Tessiner SP-Vizepräsidentin scheint die Grenzwacht überfordert wegen der schieren Menge der Migranten, die jeden Tag in Chiasso ankommen. Im Hinblick auf die unbegleiteten Minderjährigen ist Reimann der Ansicht, dass sehr viele von ihnen mehrere Versuche in Chiasso hinter sich haben und wieder an Comos Bahnhof stranden. Selbst diese würden oft unregistriert und unbegleitet zurückgewiesen, lautet die Kritik seitens linker Politikerinnen wie auch verschiedener Hilfsorganisationen. Daher begleiten freiwillige Tessiner Helfer Migranten nach Chiasso bis zur Kontrollprozedur durch die Grenzwächter, um laut Reimann zu gewährleisten, dass sie einen Asylantrag stellen können. Die Südgrenze scheint also aus linker Sicht dichter zu sein als erlaubt.
Widersprüchliche Angaben
Gemäss Polizeidirektor Gobbi macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen Voll- und Minderjährigen, wenn es um illegale Aufenthalte geht. Dies im Unterschied etwa zu Frankreich. Auch bis zu zwei Drittel der Minderjährigen weise man zurück – aber jeder einzelne werde persönlich angehört und betreut, betont Gobbi. Das Problem sei allerdings, dass viele junge Migranten ohne Papiere bei der ersten Registrierung in Chiasso angäben, volljährig zu sein; bei einem späteren Aufgreifen erkläre sich dieselbe Person dann für minderjährig. Vom geplanten einheitlichen Rückführungszentrum in Mendrisio-Rancate erhofft sich Gobbi eine Minderung solcher Schwierigkeiten.
Zur Vermutung der «Sonntagszeitung», die von einer möglichen Flut von Asylanträgen spricht, weil kein Transit möglich ist, sagt Gobbi: Diese Hypothesen seien plausibel, müssten aber verifiziert werden. Und SP-Frau Reimann spricht generell davon, dass die Flüchtlingsmisere in Como erst der Anfang sein könnte.