Politiker von links bis rechts reagieren auf den Fall Adeline M. – der Ruf nach automatischer Verwahrung im Wiederholungsfall wird laut. Der «Fall Adeline» erhöht den Druck auf die Justiz- und Polizeidirektoren, in ihren Kantonen die höchsten Sicherheitsstandards im Strafvollzug anzuwenden. Der Tessiner Sicherheitsdirektor Norman Gobbi sagt: «Ich hoffe, dass sich nun auch die Romandie an restriktiveren Kantonen orientiert.» Die Risikobeurteilung von Straftätern solle vereinheitlicht werden.
Den ersten Schritt zur Harmonisierung hat die Konferenz der kantonalen Sicherheitsdirektoren (KKJPD) bereits gemacht. Laut Martin Graf, dem Zürcher Justizdirektor und Chef der zuständigen KKJPD-Kommission, soll der sogenannte Risikoorientierte Sanktionenvollzug (ROS) in die Ausbildung des Strafvollzugspersonals integriert werden. «Ziel ist es, schweizweit die Qualität des Strafvollzugs weiter zu verbessern», sagt ein Sprecher Grafs.
Mit dem ROS-Modell versuchen die Kantone Zürich, St. Gallen, Thurgau und Luzern seit 2010 Rückfälle von Straftätern zu verhindern. Dabei wird mithilfe eines standardisierten Vorgehens die Rückfallgefahr minimiert.
KKJPD-Vize Beat Villiger geht noch einen Schritt weiter: «Ich fordere eine Fusion der Strafvollzugskonkordate.» Bisher bestehen deren drei: «Nordwest- und Innerschweiz», «Ostschweiz» und «Welsche und italienische Schweiz». Eine Zusammenlegung würde die Einführung von einheitlichen Standards vereinfachen. Ein Ausschuss innerhalb der KKJPD prüfe das nun, sagt der Zuger Sicherheitsdirektor.
Natalie Ricklis Vorstoss erhält jetzt Unterstützung
Auch Bundesparlamentarier nehmen die Kantone in die Pflicht: «Es kann nicht sein, dass alle drei Monate eine Frau einem Freigänger oder einem aus der Haft entlassenen Mann zum Opfer fällt, ereifert sich SP-Nationalrätin Margret Kiener Nellen. Man brauche bei Sexualstraftätern ein härteres Regime. «Ich beantrage in der Rechtskommission, dass wir die KKJPD-Führung vorladen und gemeinsam analysieren, was die Kantone beim Strafvollzug verbessern können.» Die Kantone stünden in der Pflicht, den Schutz der Bürger zu verbessern, pflichtet ihr Parteikollegin Susanne Leutenegger Oberholzer bei.
Das geht SVP-Nationalrätin Natalie Rickli zu wenig weit: «Es gibt immer eine zweite, dritte oder vierte Chance für Straftäter. Damit muss jetzt Schluss sein!» Rickli reicht einen Vorstoss ein, mit der das Strafgesetzbuch so angepasst werden soll, dass ein Täter, der zum zweiten Mal eine schwere Gewalt- oder Sexualstraftat begeht, automatisch verwahrt werden muss.
Nachdem ihre sämtlichen Vorstösse, um Vergewaltiger härter zu bestrafen, im Parlament gescheitert sind, findet sie nun plötzlich breite Unterstützung: «Wir müssen tatsächlich prüfen, wie bei schweren Straftaten eine automatische Verwahrung für Wiederholungstäter eingeführt werden kann», sagt beispielsweise CVP-Vize-Fraktionschefin Viola Amherd. Zwar habe jeder eine zweite Chance verdient, findet BDP-Nationalrat Bernhard Guhl. «Doch wenn jemand rückfällig wird, muss die Bevölkerung vor ihm geschützt werden.»
Auch bei den Kantonen hat nach dem «Fall Adeline» ein Umdenken eingesetzt: KKJPD-Vize Villiger sagt: «Es ist immer ein grosser Schritt, eine Verwahrung auszusprechen.» Es wäre darum hilfreich, wenn bei Wiederholungstätern, die schwere Sexual- und Gewaltdelikte verübten, automatisch eine Verwahrung fällig würde. Der Tessiner Norman Gobbi meint: «Der Vorschlag von Frau Rickli ist prüfenswert.»
SonntagsZeitung, 15.09.2013 (Von Pascal Tischhauser und Joël Widmer)