Österreich will die Grenzen für Flüchtlinge dichtmachen. Neue Fluchtrouten würden über die Schweiz führen, sagen Asylexperten. Besonders das Tessin wäre betroffen.
Österreichs Ankündigung, Obergrenzen für Flüchtlinge einführen zu wollen, wirft hohe Wellen. Mehrere Balkanstaaten ziehen mit gleichen oder ähnlichen Massnahmen nach, und die deutsche Kanzlerin Angela Merkel steht unter noch grösserem Zugzwang, die Zahl der Asylsuchenden in ihrem Land zu senken. Diese Entwicklung hat Folgen für die Schweiz. «Wenn es Österreich tatsächlich gelingen würde, die Grenzen dichtzumachen, dann wäre jene im Osten der Schweiz indirekt auch zu», sagt der St. Galler Sicherheits- und Justizdirektor Fredy Fässler (SP).
Sein Kanton verzeichnet seit letztem Herbst eine starke Zunahme Asylsuchender, die über die Balkanroute kommend via Österreich einreisen. Die Botschaft, die einzelne Länder mit der Grenzschliessung sendeten, kämen bei den Flüchtlingen zwar an, aber: «Sie lassen sich dadurch nicht aufhalten – sie werden lediglich ihre Route ändern», so Fässler.
Obergrenze an Unterbringung orientieren
Genau diesen Effekt befürchtet Norman Gobbi. Der Tessiner Sicherheitsdirektor sagt: «Wenn Österreich die Grenzen schliesst, wird sich die Balkanroute weiter westlich nach Italien verschieben. Die Flüchtlinge werden dann wieder vermehrt über das Tessin statt über die Ostschweiz in die Schweiz einreisen.» Weil ab Frühling zusätzlich die Mittelmeerroute häufiger genutzt wird, geht Gobbi davon aus, dass das Tessin innerhalb der Schweiz die Hauptlast der jüngsten asylpolitischen Veränderungen in der EU tragen wird.
«Es ist gefährlich, wenn einzelne Regierungen Tatsachen schaffen»: Michael Lindenbauer, Westeuropa-Chef der UNO-Flüchtlingshilfe, zum Entscheid Österreichs (Audio: Anja Burri, 21. Januar 2016).
Das beurteilt SVP-Migrationspolitiker Heinz Brand ebenso. «Der Entscheid Österreichs wird zu einer Verlagerung der Flüchtlingsströme führen. Davon wird die Schweiz und besonders das Tessin direkt betroffen sein.» Diese neuen Vorzeichen zwängen auch die Schweiz, neue Massnahmen zu erwägen, sagt der Bündner Nationalrat. Die Einführung einer Obergrenze hält Brand indes für nicht umsetzbar, da damit die europäische Menschenrechts- und die Genfer Flüchtlingskonvention verletzt würden. «Wir dürfen den Schutzgedanken für tatsächlich Verfolgte nicht aufgeben, müssen aber den Missbrauch wirksamer bekämpfen.»
Gobbi dagegen sieht darin einen gangbaren Weg für die Schweiz – «es darf keine Tabus mehr geben». Er will keine konkrete Zahl nennen, stellt aber klar, dass die Höhe der Obergrenze nachhaltig und finanziell tragbar sein müsse und nicht weit über einem europaweiten Pro-Kopf-Durchschnitt liegen sollte. Auch andere bürgerliche Politiker sagen, eine Obergrenze müsse unter bestimmten Voraussetzungen eingeführt werden – dann nämlich, wenn ausser Österreich mehrere weitere Länder quantitative Grenzen festlegen und damit völkerrechtliche Verpflichtungen missachten. «Dann müssten wir unser Asylgesetz auf dem Dringlichkeitsweg anpassen. Trotz Begrenzung müssten wir uns aber überlegen, ob wir nicht zumindest Familien und unbegleitete Minderjährige weiterhin einreisen lassen sollten», sagt FDP-Nationalrat Kurt Fluri. Wichtig sei, dass die Diskussion, wie eine Obergrenze in der Schweiz ausgestaltet und durchgesetzt werden könnte, bereits jetzt geführt werde, sagt CVP-Nationalrat Gerhard Pfister.
Grenzkontrollen intensivieren
Brand und Gobbi wollen als Reaktion auf die internationale Entwicklung zudem die Grenzkontrollen neu ausrichten und intensivieren. «Warum sollte die Schweiz das einzige offene Tor in Europa sein, wenn andere Länder das Schengen-Abkommen längst nicht mehr respektieren?», fragt Gobbi. Und Brand kündigt an, dass die SVP weitere Vorstösse zum Thema einreichen werde. In der Wintersession hatte die Partei in einer Sondersession vergeblich systematische Grenzkontrollen gefordert. «Darum werden wir jetzt nicht mehr herumkommen.» Dafür müsse das Personaletat des Grenzwachtkorps nicht aufgestockt, sondern Aufgaben neu verteilt werden, so Brand. Der grüne Nationalrat Balthasar Glättli sagt jedoch, dass weder verstärkte Grenzkontrollen noch eine Obergrenze die Zahl der Asylsuchenden senken würde: «Die Schweiz ist völkerrechtlich verpflichtet, alle eingehenden Gesuche zu prüfen.»
Fässler betont zudem, die Schweiz habe mit der Asylgesetzrevision bereits geeignete Massnahmen ergriffen, um die hohen Gesuchszahlen zu meistern. Beschleunigte Verfahren und konsequente Ausweisungen seien sinnvoller als Grenzabriegelungen, zumal die Schutzquote heute hoch sei. Er plädiert dafür, dass sich die Schweiz stärker vermittelnd in den EU-Gremien einbringe, um eine gesamteuropäische Lösung mit einem Verteilschlüssel zu finden. Denn das und nicht eine Grenzschliessung sei wohl das eigentliche Ziel der österreichischen Aktion: «Es ist ein Hilfeschrei an Europa, dass die Asylproblematik nicht ein paar wenigen Staaten überlassen werden kann.»
«Vieles ist unklar»
Wie eine solche Lösung aussehen soll, diskutieren die europäischen Justiz- und Innenminister am kommenden Montag. Auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga wird an den Gesprächen teilnehmen. Heute wollte sie sich nicht zu den österreichischen Plänen äussern. Dazu seien diese zu wenig konkret. Deutlicher wurde SVP-Bundesrat Guy Parmelin: Der Entscheid Österreichs betreffe auch die Schweiz, sagte der Verteidigungsminister nach einem Treffen mit seinem österreichischen Amtskollegen Gerald Klug am WEF. Wie genau, sei zurzeit noch unklar – ein Einfluss auf die Fluchtrouten sei nicht ausgeschlossen.
Das Staatssekretariat für Migration weist darauf hin, dass es sich bislang lediglich um eine Absichtserklärung handle. Vieles sei unklar – nicht einmal Österreich wisse, wie es den «Richtwert» umsetzen wolle und ob dieser konform mit zwingendem Völkerrecht sei, sagt Sprecher Martin Reichlin. Die Schweiz erwarte jedoch, dass sich Österreich ihr gegenüber weiterhin an die völkerrechtlichen Verpflichtungen gemäss Schengen/Dublin halte. «Die Absichtserklärung zeigt erneut deutlich: Mehr denn je braucht es eine gemeinsame europäische Asylpolitik. Unkoordinierte nationale Antworten lösen das Problem nicht, sondern lösen oft negative Kettenreaktionen aus», so Reichlin.
da www.tagesanzeiger.ch del 22 gennaio 2016