Da Berner Zeitung l Der Grenzgängerstreit zwischen Italien und dem Tessin beschäftigt nun auch Europa: Rom will, dass die EU ein Verfahren gegen die Schweiz eröffnet. Hintergrund ist eine Tessiner Steuererhöhung, die Grenzgänger benachteiligt. Solche Provokationen sind ganz im Sinne von Regierungspräsident Norman Gobbi.
Italien hat bei der EU-Kommission kürzlich formell die Eröffnung eines Verfahrens gegen die Schweiz beantragt. Das hat inzwischen auch das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen in Bern bestätigt.
Die italienischen Behörden kritisieren die höhere Besteuerung von Grenzgängern aus Italien durch den Kanton Tessin, die seit dem 1. Januar in Kraft ist.
Im November hatte der Grosse Rat beschlossen, den Steuerfuss für alle Grenzgänger von 78 Prozent – dem Durchschnitt der Gemeindesteuersätze – auf 100 Prozent zu erhöhen. Bellinzona rechnet dadurch mit Mehreinnahmen in Höhe von jährlich rund 20 Millionen Franken.
Tessiner Arbeitsmarkt
Italien sieht in der Regelung eine Diskriminierung und Verletzung des Personenfreizügigkeitsabkommens, welches die Gleichbehandlung von Schweizern und EU-Bürgern garantiert.
Die von Rom kritisierte Steuerfusserhöhung gehört zu einer ganzen Reihe von Massnahmen, Vorstössen und Plänen, mit denen der Kanton Tessin nach der wuchtigen Annahme der Masseneinwanderungsinitiative vom 9.Februar 2014 die Handlungsfähigkeit in der Grenzgängerfrage zurückzugewinnen erhofft. In ihrer Gesamtheit sind es Versuche, den Tessiner Arbeitsmarkt weniger attraktiv für Grenzgänger zu machen.
Keine Trendwende
Bisher allerdings ohne messbaren Erfolg, die Zahl der Grenzgängerinnen und Grenzgänger steigt weiter an. Sie hat sich in den letzten 14 Jahren verdoppelt. Aktuell sind im Tessin knapp 62’000 Grenzgänger beschäftigt (vgl. Grafik). Jeder vierte Erwerbstätige quert also morgens und abends die Landesgrenze.
Im letzten Quartal 2014 ist die Grenzgängerzahl um fast 900 gesunken, der bisherige absolute Höchststand wurde im dritten Quartal 2014 mit 62’481 verzeichnet. Die Zahlen des ersten Quartals 2015 lassen vermuten, dass es sich dabei nicht um eine Trendwende handelte.
Am liebsten möchte das Tessin die Höchstzahlen für Grenzgänger selber festlegen. Der Ständerat hat in der Junisession eben eine entsprechende Standesinitiative des Kantons Tessin abgelehnt. Deren Inhalt wäre zudem kaum kompatibel mit der Personenfreizügigkeit.
Lohndumping und Verkehr
Die Grenzgängerfrage ist im Tessin seit Jahren ein Dauerbrenner. Heiss diskutierte Themen sind die Folgen des Lohndumpings und der tägliche Verkehrsinfarkt, mit dem sich vor allem das Südtessin konfrontiert sieht.
Die Vagheit in der im Januar erzielten Grundsatzeinigung zwischen Italien und der Schweiz (vgl. Infobox) was die künftige Besteuerung der Grenzgänger betrifft, stösst im Tessin auf Argwohn. Darin vorgesehen ist eine Klausel, die das absehbare neue Abkommen hinfällig macht, falls die Schweiz – als Folge des 9.Februar – dereinst eine Kontingentssystem einführen sollte. Ausserdem befürchtet man, dass der Kanton Tessin am Ende doch nicht mehr Geld in seine Kasse bekommen wird.
Um den Druck auf Bern in diesem Dossier zu erhöhen, wollten die beiden Lega-Vertreter in der fünfköpfigen Kantonsregierung Ende Juni das Protestsignal von 2011 wiederholen und die Überweisung der Grenzgängersteuergelder an Italien erneut blockieren. Doch sie wurden von ihren drei Kollegen überstimmt: Diese wollen nicht, dass man Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf in der die Schlussphase der Grenzgängergespräche zusätzliche Hindernisse in den Weg legt.
Die Mutter aller Übel
Die Lega stellt mit Norman Gobbi derzeit auch den Regierungspräsidenten. Er nutzt jede Gelegenheit, um auf die verheerenden negativen Folgen der Personenfreizügigkeit fürs Tessin und generell auf dessen exponierte Lage hinzuweisen.
Der 38-Jährige verfolgt dabei eine Strategie der dosierten Provokation. Für eine erneute Blockade etwa warb er im Juni so: «Manchmal können nur aufsehenerregende Handlungen konkrete Folgen zeitigen.» Sie sei der «letzte Trumpf in unseren Händen». Kurz darauf sorgte er mit einer ganz anderen Forderung landesweit für Schlagzeilen: Man müsse eine vorübergehende Grenzschliessung ins Auge fassen, falls der «Andrang der Asylsuchenden aus Italien» anhalte.
Regierungspräsident Gobbi pflegt mit seiner kämpferischen Rhetorik das Lega-Image als wahre Hüterin der Interessen des Kantons. Damit gibt er auch die Parteilinie für den Wahlkampf vor: Die Lega will im Herbst mindestens ihre beiden Sitze im Nationalrat verteidigen. Die Personenfreizügigkeit ist in dieser Strategie sozusagen die Mutter aller Übel.
Hausgemachte Schikanen
Gobbi schreckt vor gezielten Kompetenzüberschreitungen nicht zurück. Im April hatte das von ihm geleitete Justiz- und Polizeidepartement verfügt, dass alle Antragsteller für eine Aufenthaltsbewilligung ab sofort einen Strafregisterauszug vorweisen müssen.
Die befristete Regelung trifft vor allem italienische Grenzgänger. Das Staatssekretariat für Migration erklärte den Tessiner Vorstoss jedoch kürzlich in einem Schreiben an Gobbi als nicht vereinbar mit der Personenfreizügigkeit.
Direkt bei Gobbi über die Verschärfung beschwert hat sich auch Roberto Maroni, Lega-Regionalpräsident der Lombardei. Das sei eine «ungerechtfertigte Benachteiligung, die zu Spannungen führen wird», warnte der frühere italienische Innenminister kürzlich bei einem Treffen mit Gobbi in Como.
Italiens Aussenminister Paolo Gentiloni wiederum hatte bei seinem Besuch in Bern Ende Mai gesagt, man plane zwar keine Gegenmassnahme, doch eine derartige Regelung «könnte in der öffentlichen Meinung in Italien leicht zu negativen Reaktionen führen».
Gobbi spielt auf Zeit
Doch Gobbi hat unbeirrt die Stimmung im Tessin im Blick und spielt auf Zeit. Man bereite «in den kommenden Wochen» eine Stellungnahme an Bern vor, teilte eine Departementssprecherin letzte Woche mit. Gut möglich, dass Gobbi die «befristete Regelung» im Herbst wieder aufhebt – ihre mediale und institutionelle Wirkung hat sie gehabt.
Im Falle der Grenzgängersteuersatzes aber hat Italien reagiert. Bern hat nun zwei Monate Zeit, um Brüssel den Grossratsbeschluss aus dem Tessin zu erklären. Sollte die EU-Kommission dann tatsächlich ein Verfahren eröffnen, könnte der Schweiz als Strafe beispielsweise eine Busse auferlegt werden.
Oder das Tessiner Parlament beugt sich nochmals über die Vorlage und korrigiert die umstrittene Steuererhöhung. Oder man lebt einfach damit. Dafür ist gerade Italien ein leuchtendes Beispiel: Gegen Rom sind bei der Europäischen Union aktuell rund hundert Verfahren hängig.
Von Andreas Saurer
Bild: Pablo Gianinazzi