Da NZZ.CH l Flüchtlingskrise: Kosten des Asylwesens, Notfallplanung, Privatunterbringung, Adria-Route: Fakten und Mutmassungen zu den Auswirkungen der Asylkrise auf die Schweiz.
Bewirken die unterschiedlichen Sozialleistungen, dass viel weniger Asylsuchende zu uns kommen als nach Deutschland oder Schweden?
Die Sozialhilfeleistungen erklären die Flüchtlingsströme nicht. Ein Asylbewerber erhält in Deutschland ähnlich viel wie ein Hartz-IV-Bezüger, also mehrere Hundert Franken weniger als in der Schweiz. Hier erhalten Asylsuchende je nach Kanton knapp 1000 Franken.
Woran liegt es dann, dass vergleichsweise wenige Flüchtlinge von der Balkan-Route zu uns kommen?
Flüchtlinge zieht es zu ihren Landsleuten. In der Schweiz lebten per Ende 2014 nur 6500 Syrer. Die eritreische Diaspora ist fast fünfmal grösser. Ebenso wichtig ist aber der grosszügigere asylrechtliche Status, den Deutschland und vor allem Schweden den Syrern gewährt. Stockholm hat bereits vor zwei Jahren beschlossen, den syrischen Flüchtlingen eine Daueraufenthaltsbewilligung auszustellen. In Deutschland müssen Syrer auch kein Asylverfahren durchlaufen. Anders als Asylbewerber dürfen sie von Beginn weg arbeiten. In der Schweiz dürfen Asylbewerber erst nach drei Monaten eine Erwerbstätigkeit aufnehmen. Vergleichsweise unattraktiv ist die Schweiz auch, weil sie Dublin-Fälle konsequent bearbeitet und die Gesuchsteller wenn möglich ins Erstasylland zurückführt.
Ist es denkbar, dass plötzlich so viele Asylbewerber in Buchs ankommen wie in den letzten Wochen in München?
Der Zustrom wäre limitiert, weil einerseits die Zugverbindung durch den Arlberg viel weniger Kapazitäten hat als jene von Österreich nach München. Dasselbe gilt für den Weg auf der Strasse?
Was kostet das Asylwesen?
Es gibt keine offizielle Kostenschätzung. Der Bundesrat hat gegenüber dem Parlament mehrmals festgehalten, er könne die Aufwendungen der Kantone nicht beziffern. Die Ausgaben des Bundes schätzte er im Jahr 2011 auf rund 850 Millionen. Im Zusammenhang mit der aktuellen Asylreform publizierte das Staatssekretariat für Migration aber auch Zahlen zu den kantonalen und kommunalen Ausgaben. Total belaufen sich diese unter der Annahme von 24’000 Asylgesuchen auf 1,6 Milliarden Franken. Mit der Neustrukturierung des Asylwesens sinkt der Betrag auf 1,3 Milliarden Franken. Es gibt auch andere Schätzungen.
Die SVP schätzt die Gesamtkosten auf 6 Milliarden Franken, die «Schweizerzeit» auf 7,1 Milliarden. Wie erklären sich die Unterschiede?
Die SVP hat die Kosten von Bund und Kantonen auf 3 Milliarden Franken aufgerundet und dazu die Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit im von 3,24 Milliarden Franken hinzugerechnet. Die «Schweizerzeit» rechnet anders: Sie geht von 89’000 Personen «unter Asylrecht» aus und multipliziert diese Zahl mit 80’000 Franken, welche diese Personen den Staat pro Jahr kosten sollen. Wie der Betrag von 80’000 Franken zustande kommt, wird nicht erläutert. Knapp 70’000 der 89’000 Personen sind anerkannte Flüchtlinge oder vorläufig Aufgenommene.
Erhalten Asylbewerber mehr staatliche Unterstützung als Rentner?
Der grösste Teil der Leistungen für Asylsuchende sind Naturalien, in einigen Kantonen erhalten sie gar keine Barbeträge. In der Stadt Zürich sind die Leistungen sind rund 30 Prozent tiefer angesetzt als die empfohlenen Beträge der Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS). Im Durchschnitt wendete der Staat 1100 Franken pro Person im Asylverfahren auf. Eine AHV-Minimalrente beträgt zurzeit 1’175 Franken. Wer keine grösseren Ersparnisse oder Einkünfte hat, erhält aber – anders als Asylbewerber – Ergänzungsleistungen. Diese sollen zusammen mit einer allfällige Rente den allgemeinen Lebensbedarf von jährlich 19’290 Franken oder monatlich 1607 Franken decken.
Ist die Schweiz auf einen massiven Zustrom von Flüchtlingen wie in Deutschland vorbereitet?
Das Notfallkonzept des Bundesrats sieht in diesem Fall die Einberufung eines Sonderstabs Asyl vor. Eine definierte Schwelle gibt es nicht. Der Präsident der kantonalen Sozialdirektoren, Peter Gomm, hält 50’000 Flüchtlinge pro Jahr mit den normalen Strukturen für bewältigbar. In den Krisenmodus schalten müssten die Behörden aber auch, wenn innerhalb weniger Tage oder Wochen eine unerwartet hohe Zahl von Flüchtlingen ankäme.
Führt die Schweiz wieder systematische Grenzkontrollen ein?
Der Bundesrat hält sich ans Schengen-Recht, wonach systematische Kontrollen mit all ihren wirtschaftlich negativen Auswirkungen erst bei einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit temporär möglich sind. Das Grenzwachtkorps wurde aber verstärkt. Nach Aussagen von Bundesrat Ueli Maurer kann die Armee dem Grenzwachtkorps innert drei Tagen 800 Soldaten zur Verfügung stellen.
Wo würde eine grosse Anzahl von Flüchtlingen untergebracht?
Nach Angaben des Verteidigungsministers verfügt die Schweiz über 150’000 Plätze in Zivilschutzanlagen. Unterirdische Anlagen sind allerdings umstritten, vor allem bei mehrmonatigen Aufenthalten. Ueli Maurer sprach sich gegen eine Unterbringung in Kasernen aus, weil die den Ausbildungsbetrieb der Armee einschränkt.
Sollen Privatpersonen Flüchtlinge aufnehmen?
Privatunterbringungen sind bisher eher selten. Die meisten dieser Personen wohnen bei Landsleuten. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) vermittelt Gastfamilien. Ziel ist – zumindest im Moment – weniger die Entlastung der staatlichen Strukturen als eine raschere Integration. Privatunterbringungen sollten aber mit viel Realismus und für eine längere Zeit geplant werden. Das Zusammenleben einer traumatisierte Familie aus einem anderen Kulturkreis mit einer «normalen» Schweizer Familie ist nicht immer einfach, sagt SFH-Sprecher Stefan Frey. Wer Zweifel hat, ob er einen Flüchtling aufnehmen soll, kann den «Flüchtlinge privat aufnehmen»-Knigge der «TAZ» studieren.
Auf dem Balkan und in Südosteuropa werden Zäune errichtet. Kommen die Flüchtlinge bald über die Adria nach Italien und dann in die Schweiz?
Der Tessiner Sicherheitsdirektor Norman Gobbi hält eine solche Entwicklung für möglich. Die Route ist beschwerlich und auf dem Meer je nach Schiff gefährlich. Solange die Grenzen zwischen Griechenland und Nordeuropa offen sind, werden wenige diesen Weg freiwillig wählen. Anfang der neunziger Jahre setzten mehrere zehntausend Albaner über die Adria nach Apulien über. Vom Westbalkan her wäre die Schweiz auch via Slowenien und Italien zu erreichen. Solange die Flüchtlinge die österreichische Grenze zu Slowenien passieren können, ist das aber ein weiter Umweg.