Die Gänge und Kavernen der einst streng geheimen Gotthardfestung sind heute Themen von Goethe bis Guisan gewidmet
Schon vieles ist dem Gotthard, diesem Mythos unter den Schweizer Bergen, angehängt und angedichtet worden. Seinem Umfeld entspringt nebst Rhein, Rhone, Reuss und Tessin so manche Ausgeburt der menschlichen Phantasie. Der Berg, der Norden und Süden verbindet und zugleich trennt, hat alles geduldig ertragen – so tüchtig es auch rumort haben mag in seinen Eingeweiden.
In diese ist der Mensch in den letzten zwei Jahrhunderten tief vorgedrungen, er hat sie perforiert, um Grundbedürfnisse wie Sicherheit, Mobilität und Energie- und Wasserversorgung zu gewährleisten. Der erste Eisenbahntunnel von 1882 war seinerzeit der längste der Welt, ebenso der 1980 eröffnete Strassen- und erst recht und weiterhin der 57 Kilometer lange Basistunnel von 2016.
Bollwerk im Kalten Krieg
Nicht ganz so berühmt ist die weitläufige Gotthardfestung im Berginnern beim Pass, in deren Labyrinth wir an diesem Sommertag vorstossen. General Guisan initiierte sie im Zweiten Weltkrieg als Pfeiler seines Reduitplans, gemäss dem es die Alpen und damit das ganze Land gegen die möglichen Eindringlinge aus Deutschland oder Italien zu schützen galt.
60 bis 100 Arbeiter schufteten vier Jahre lang im Vierschichtbetrieb. Und als sie das damals 10 Millionen Franken teure Werk mit 2,4 Kilometern an Stollen, Schächten und Kavernen gegen Ende 1944 vollendeten, war der Krieg fast vorbei. Doch die für bis zu 400 Mann konzipierte Festung mit einer Nutzfläche von 8000 Quadratmetern überdauerte ihn um Jahrzehnte, auch dank dem Kalten Krieg. Über ein halbes Jahrhundert lang war diese «Sasso da Pigna» auf Gemeindegebiet von Airolo in Betrieb – unter strengster Geheimhaltung. Erst 2001 wurde sie, drei Jahre nach dem Auszug der letzten Truppen, definitiv stillgelegt.
Doch die Geschichte dieser Höhlenwelt war damit zum Glück nicht zu Ende. Zu verdanken ist dies einer Gruppe um Martin Immenhauser, den letzten Kommandanten der Festung. Er wurde Gründungspräsident der privaten Stiftung Sasso San Gottardo, die sich 2004 die Erhaltung und Öffnung der Anlage zum Ziel setzte, nicht nur für militärhistorisch interessierte Besucher. Vor elf Jahren ist der Umbau, dessen Kosten von 13 Millionen Franken zu einem Drittel die öffentliche Hand trug, abgeschlossen worden. Seither hat man die Themenwelt rund um die Geschichte des Gotthards schrittweise erweitert.
So ist eine Mischung aus Museum, mit Detailliebe eingerichtet, und historischer Stätte unter Tag entstanden. Von Anfang Juni bis Mitte Oktober kann jedermann sie für ein Eintrittsgeld von 25 Franken erkunden, was rund 17 000 Besucher pro Saison tun. Etwa ein Zehntel von ihnen ist laut Zingg englischsprachig – ihr Anteil habe sich stetig erhöht mit der Eröffnung des Luxushotels «Chedi» im nahen Andermatt. Und in diesen Tagen, da wegen der unfallbedingten Sperrung des Bahntunnels alle Züge über die alte Gotthardroute verkehren, könnte sich ein Abstecher besonders anbieten.
Man betritt die Unterwelt auf der Passhöhe, gut 2000 Meter ü. M., mit Blick auf die alte Sust, wo früher die Säumer die Pferde wechselten, das einst von Kapuzinern betriebene Hospiz und gigantische Windräder mit Rotoren von fast hundert Metern Durchmesser. Zwischen Felsen, grün gemustert und weiss gefleckt vom Schnee, wartet ein quadratisches Tor, darüber das Schweizerkreuz, flankiert von Uristier und Tessiner Wappen. Sesam, öffne dich!
Den 300 Meter langen Eingangstunnel säumen Tafeln mit Namen privater und institutioneller Gönner. Sie zählen ebenso zu den Einnahmequellen wie der Café-Kiosk, an dem Militärbiskuits und ein Westschweizer «Generalswein» zu Ehren von Guisan zu kaufen sind. Stolz zeigt Damian Zingg eine der Flaschen vor. Das Zuger Multitalent mit Jahrgang 1967, ein Allrounder mit autodidaktischem Flair, führt das Sasso San Gottardo seit neun Jahren. Kaum ein anderer Museumsdirektor verwaltet eine solche Vielfalt an Themen und Materialien, und seine Geschichten und Anekdoten erwecken selbst Granit zum Leben.
Eine spezielle G-Kraft
Wir erreichen die ersten Kavernen, da waren einst unter anderem die Küche, ein kleines Spital, ein Minikraftwerk eingerichtet, dessen Raum man noch heute mit geschlossenen Augen am Dieselduft erkennt. In einigen Teilen sind die Mauern herausgerissen. Hier entsteht eine Kunstinstallation, dort realisiert die ETH Lausanne bald ihre analoge Weltraummission Asclepios II, welche die Bedingungen einer Forschungsstation am Südpol des Mondes simulieren soll.
Ausserhalb der Öffnungszeiten trifft man auf eine Ruhe, die zumindest für Grossstädter ein rar gewordenes Gut ist. Sie wird aber auch für Besucher kultiviert, mit «Sessionen» in einer mit Liegestühlen ausgestatteten, gewiss zwölf Meter hohen Kaverne, deren tolle Akustik sie auch für Konzerte prädestiniert. Sie ist letzten Sommer eingeweiht worden (zum 10-Jahr-Jubiläum, moderiert von Christa Rigozzi, die als Tessiner Urgestein zu bezeichnen natürlich unverschämt wäre).
Das Matterhorn mag in Zeiten von Instagram von der höheren Erkennbarkeit profitieren, doch kein anderer Mythos ist so eng mit der Schweizer Identität verwoben wie jener des Gotthards. Hier liess die Landesregierung im Zweiten Weltkrieg zu ihrem Schutz eine unterirdische Burg einrichten, diesen Bundesratsbunker wandelte später ein privater Käufer in einen Tresor um. Und in dieser Region, Schauplatz des Schwurs der ersten Eidgenossen 1291, fasste Goethe auch Feuer für die Tell-Sage, die Friedrich Schiller auf seine Anregung hin in ein Drama goss.
Über den Dichterfürsten, der diese Region als «die liebste und interessanteste Gegend» bezeichnete, die er kenne, ist ebenfalls letztes Jahr in Kooperation mit der Goethe-Gesellschaft Schweiz eine Dauerausstellung entstanden: Dreimal zog es Goethe auf den Gotthard, begonnen im Sommer 1775 auf seiner ersten Schweizreise. Warum kehrte er ausgerechnet hier um, auf der europäischen Hauptwasserscheide, dem ersehnten Süden nah wie nie zuvor? Diesen und anderen Fragen widmet sich die Schau, ergänzt um einen Sektor zum Mythos Gotthard. So wirkt eine ganz besondere G-Kraft in diesem Mikrokosmos – in Form einer Häufung der entsprechenden Initialen: Gotthard, Granit, Gneis, Guisan, Goethe. Zu dessen Faszination für Geologie und Gestein passt eine mit Perserteppichen ausgelegte Wunderkammer, in deren Vitrinen Kristalle zu bewundern sind, eine beinahe sakral anmutende Erfahrung.
Wenngleich das «Sankt» vor «Gotthard» heutzutage in einer Mischung aus Sprachökonomie, Religionsferne und Geschichtsvergessenheit meist verschluckt wird: Eine fast schon transzendentale Wirkung hat dieses Massiv, benannt nach einem deutschen Bischof, der in Italien heiliggesprochen wurde: Godehard von Hildesheim.
Tief und tiefer dringen wir in das System aus feucht-kühlen Gängen ein, als idealen Zufluchtsort in der Sommerhitze – aber auch «Therapiestollen gegen Klaustrophobie», wie Zingg lächelnd anmerkt. So manchen, die sich für immun gegen die Angst vor engen Räumen halten, wird es trotz Beleuchtung mulmig zumute, wenn sie nicht gar ein leises Gruseln packt. Wer Videogames wie «Resident Evil» kennt, fühlt sich daran erinnert, wappnet sich gegen Zombies, die um die Ecke biegen könnten. Wen wundert’s, dass die Anlage schon als Kulisse für Fantasyfilme gedient hat?
Ein abgelegener Sektor ist nur für Abenteuertouren in Gruppen mit Stirnlampen zugänglich. Und vom Museum ausgeschriebene Stellen werden als «Job mit Abenteuerflair» angepriesen. Zwei Kilometer tief in den Berg hinein führt dieses Labyrinth, über 220 Höhenmeter hinweg. 20 davon überwinden wir auf dem 400 Meter langen Verbindungsstollen, der zur historischen Festung führt, doch ist die Steigung mangels Referenzpunkten fürs Auge kaum erkennbar. Nur der Puls beschleunigt sich leicht beim Aufwärtsgehen – und ein Mann flitzt uns auf dem Velo entgegen, ohne in die Pedalen treten zu müssen. Die Angestellten bewegen sich gerne auf zwei Rädern durch die Anlage.
Spätestens jetzt wähnen wir uns im Bauch des Berges, wenngleich klar ist: Wir sind bestenfalls im Rachen des gewaltigen Massivs angelangt. Die letzten 80 Meter Höhendifferenz wären auf gegen 500 Stufen zu bewältigen, käme nicht die «höchstgelegene U-Bahn des Tessins» zu Hilfe: Die konzessionierte Standseilbahn mit dem stolzen Namen «Metro del Sasso», 2012 vom Waren- zum Personentransport umgerüstet, führt im Handumdrehen hinauf zum Teil mit den original erhaltenen Truppenunterkünften.
Die Zeit steht still
Hier oben scheint die Zeit stillgestanden zu sein. Wir tauchen ab in eine Epoche, in der Telefone noch ratternd zurückschnellende Wählscheiben hatten – ein Fall für den Friedhof der ausgestorbenen Geräusche. Zu besichtigen gibt es Schlafsäle und -zimmer – je höher der Dienstgrad, desto geringer die Anzahl Mitnutzer –, aber auch eine kleine Ausstellung zum Kalten Krieg, der hohen Zeit der Militarisierung, und einen Schauraum mit Vitrinen, in denen Objekte und Zeitungsausschnitte unter anderem General Guisan gewidmet sind.
In diesem Trakt sind – natürlich ungeladen – die zwei mächtigen Kanonen nach aussen gerichtet, der Hauptzweck dieser Anlage: Mit dem Artilleriewerk sollte die Infanterie draussen bei der Landesverteidigung unterstützt werden. In Kritzeleien auf der Wand haben sich die letzten hier im Einsatz gewesenen Kanoniere verewigt, einer hielt am 1. Oktober 1996 einen Rekord im Schnellladen des gewaltigen Rohrs fest: 6 Schuss innert 37 Sekunden. Alle Achtung!
Unweit dieser geballten Waffenkraft bietet eine Aussenterrasse eine atemraubende Panoramasicht in die Bergwelt, auf den ersten Blick karg wie von einem anderen Planeten. Linker Hand ragt ein Kanonenrohr gespenstisch aus einem Kettenvorhang, man denkt unvermittelt an den richtigen Krieg, der in nicht so weiter Ferne tobt. Doch wer genau hinschaut, wie es Goethe getan hat, sieht Leben blühen: Die Wundertüte Gotthardpass ist auch ein Biotop für tapfere Pflanzen, von der Alpenaster bis zur Silberdistel, von Arnika über Enzian bis zum Thymian.
Da www.nzz.ch (12 agosto 2023)