Da NZZ.ch l Das Tessin und Flüchtlingsströme. In Italien könnten in diesem Jahr 300 000 Migranten ankommen – doppelt so viele wie 2015. Das Tessin liebäugelt deshalb mit einer Teilschliessung der Grenze.
Kürzlich ist es wieder einmal zu einem Aufmarsch der Bundesräte im Tessin gekommen. Justizministerin Simonetta Sommaruga war auf Stippvisite im Asylzentrum von Losone, und Finanzminister Ueli Maurer nahm Augenschein beim Grenzwachtkorps in Chiasso. Die dahinterstehende Absicht ist klar: Angesichts der zu erwartenden neuen Flüchtlingswelle will Bundesbern gegenüber den Tessinern Solidarität beweisen und sie auf die Abstimmung vom 5. Juni über die Beschleunigung der Asylverfahren einstimmen.
Der Tessiner Regierungspräsident Paolo Beltraminelli (cvp.) äusserte in Losone seine Zufriedenheit über die geplante Asylgesetzrevision. Sie berichtige den «historischen Fehler», zu viele Aufgaben im Flüchtlingsbereich den Kantonen zu überlassen. Beltraminelli hofft zudem, das geplante Bundesasylzentrum für die Süd- und Zentralschweiz komme möglichst nahe der «heiklen Südgrenze» bei Chiasso zu stehen – um illegalen Übertritten entgegenzuwirken.
Wegen der Schliessung der Balkanroute werden syrische Flüchtlinge spätestens mit Beginn wärmeren Wetters wieder vermehrt übers Meer nach Italien kommen. Auf diese Weise verstärken sie massiv den südlichen Migrantenstrom in Richtung Mittel- und Nordeuropa, der vor allem aus Menschen afrikanischer Herkunft besteht. Italien befürchtet, heuer könnte sich die Flüchtlingszahl auf 300’000 Personen verdoppeln.
Dies dürfte die schweizerische Südgrenze wieder besonders stark belasten. Wie in früheren Jahren könnte sie im Minimum von rund der Hälfte aller Migranten überschritten werden, die in der Schweiz einen Asylantrag stellen. Der Bund rechnet im Rahmen seiner Notfallplanung heuer mit mindestens 40’000 Gesuchen – es könnten aber auch deutlich mehr werden. Im schlimmsten Fall ist damit zu rechnen, dass innert weniger Tage mehrere Zehntausend Menschen über die Südgrenze kommen.
«Die Leute erwarten eine Reduzierung der Anzahl Asylsuchender», sagt Biascas Sindaco.
Im Tessin bestehen drei Aufnahmezentren: Jenes in Chiasso weist Platz für 130 Personen auf, während in der Ex-Militärkaserne von Losone 170 Menschen untergebracht werden können; in Biasca schliesslich sind 50 Plätze vorhanden. Wie beurteilen nun die Sindaci dieser drei Gemeinden die Angst der Bevölkerung vor einem möglichen Ansturm neuer Flüchtlinge?
Gelassenheit in Losone
Losones Sindaco Corrado Bianda (cvp.) weiss darauf keine direkte Antwort. Er nimmt aber an, die Menschen in seiner Gemeinde unterschieden sich punkto Ansichten über Asylsuchende nicht von der restlichen Schweizer Bevölkerung. Auf alle Fälle stellt Bianda fest, dass nach anfänglichen Ängsten wegen der Eröffnung des Asylzentrums in der ehemaligen Militärkaserne die Erfahrung der Bevölkerung mit Migranten mehrheitlich positiv sei. Konfliktsituationen habe es nur wenige innerhalb des Kasernengeländes gegeben. Da die im Herbst 2014 eröffnete Flüchtlingsunterkunft vor Ende 2017 an die Gemeinde übergehen und anderen Zwecken dienen wird, dürfte Losones Bevölkerung eher gelassen bleiben.
Gemäss dem Stadtpräsidenten von Chiasso herrscht eine gewisse Angst vor einer neuen Flüchtlingswelle. Das sei aber grösstenteils auf die vielen Medienberichte zurückzuführen als auf konkrete Anzeichen, sagt FDP-Mann Bruno Arrigoni. Im Gegensatz zu früheren Jahren, als angetrunkene Asylsuchende Passanten belästigten, sei ein guter Teil der Bevölkerung auf die jetzigen wie auch künftigen Flüchtlinge gut vorbereitet und zeige sich gelassen.
Laut Arrigoni erwarten Chiassos Bevölkerung und Behörden vom Bund, dass dieser die Aufnahmeprozeduren der Asylsuchenden möglichst schnell abwickelt und überzählige Migranten an andere Orte in der Schweiz schickt. Gerade wenn es zu einem Ansturm auf die Südgrenze komme, sollte der «Abfluss» der Flüchtlinge reibungslos funktionieren.
Biasca will weniger Asylsuchende
Die deutlichsten Worte findet Biascas freisinniger Sindaco Loris Galbusera. Während man früher auf Gemeindegebiet kaum Flüchtlinge angetroffen habe, seien es gegenwärtig insgesamt 170 Personen, die sich in verschiedenen Stadien des Aufnahmeverfahrens befänden und zum Teil in Mietwohnungen oder touristischen Unterkünften lebten. Eine ansehnliche Zahl, so Galbusera. Dennoch habe man nach anfänglichen Schwierigkeiten zu einem friedlichen Zusammenleben gefunden.
Aber Biascas Gemeindepräsident stellt eine gewisse Besorgnis in der Bevölkerung fest, was neue Flüchtlinge anbelangt. Im Falle einer weiteren Welle müssten Bund und Kanton ihren Notfallplan rasch umsetzen und die Menschen weiterleiten: Biasca habe keine verfügbaren Plätze mehr. Galbusera hat zudem den Kanton aufgefordert, die Plätze in Privatwohnungen und Hotels auf rund hundert zu beschränken. «Die Leute erwarten eine Reduzierung der Anzahl Asylsuchender auf unserem Gemeindegebiet.»
Flüchtlinge auch am Wochenende registrieren
An die Befindlichkeit der Bevölkerung knüpft auch der Chef des Tessiner Justiz- und Polizeidepartements Norma Gobbi (Lega) an. Falls sich in dieser «historischen Phase» das subjektive Sicherheitsgefühl der Leute verschlechtern sollte, könnte das die angestrebte Wirkung des Aufnahme- und Überwachungsdispositivs im Südkanton zunichte machen.
In einer Notfallsituation sei es dem Tessin nicht möglich, eine schier endlose Menge von Flüchtlingen unterzubringen, sagt Gobbi weiter. Deshalb hat er zusammen mit Amtskollegen anderer Grenzkantone den Bund aufgefordert, eine Höchstzahl der aufzunehmenden Migranten festzulegen.
Italien befürchtet eine Verdoppelung der Flüchtlingszahlen, Österreich und Frankreich planen die Einführung von Grenzkontrollen – da wird in Gobbis Augen die Schweiz zum letzten «offenen Tor» für den Weg nach Deutschland und Skandinavien. Deshalb nimmt der Staatsrat mit Befriedigung zur Kenntnis, dass Bundesrätin Sommaruga die Registrierung von Flüchtlingen nun auch übers Wochenende durchführen will. Nach Tessiner Erfahrung kommen just dann die meisten Migranten in Chiasso an.
Flüchtlinge abschrecken
Doch dies genügt Gobbi nicht. Vor allem mit Blick auf Österreich, das möglicherweise den Grenzübergang am Brenner schliesst, fordert er Massnahmen zur wirkungsvollen Abschreckung von Migranten. Will der Tessiner Magistrat also noch immer die Südgrenze schliessen, wie er vergangenen Sommer verlauten liess?
Diese Option dürfe man angesichts der zu erwartenden Flüchtlingszahlen in Betracht ziehen, lautet die Antwort. Gobbi stellt sich Massnahmen vor, die man auf die Lenkung der Migrantenströme begrenzt, ohne den normalen grenzüberschreitenden Personen- und Handelsverkehr zu beeinträchtigen.
Bundesrat Maurer wiegelt ab
Auf diesen Punkt hatten die Tessiner Medien Bundesrat Maurer in Chiasso angesprochen. Momentan kämen in der Grenzstadt etwa dreissig Flüchtlinge pro Tag an, von denen man 20 Prozent nach Italien zurückschicke; ausserdem sei ein Zustrom an Syrern vom Balkan her zurzeit nicht feststellbar, liess die Grenzwacht verlauten. Eben darum bezeichnete Maurer selbst eine Grenzschliessung als hypothetische ultima ratio. Gleichzeitig gab der Bundesrat zu, dass alles möglich sei; dennoch hoffe er, das Dichtmachen der Südgrenze vermeiden zu können.
Übrigens weist Staatsrat Gobbi noch auf ein besonderes Problem Italiens mit Flüchtlingen hin. Falls der Migrantenstrom vom Balkan her stark anschwelle, könne man vor allem in Süditalien die ordentliche Registrierung der Flüchtlinge aufgrund der schieren Masse nicht mehr vornehmen. Bundesbern müsse alles tun, damit dieses Problem nicht zu einem schweizerischen werde, mahnt Gobbi. So wird vollends klar: Das Tessin fürchtet den Druck aus Süden.
von Peter Jankovsky, http://www.nzz.ch/schweiz/das-tessin-und-fluechtlingsstroeme-der-druck-von-sueden-ld.16525