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Das Coronavirus wütete lange Zeit am schlimmsten im Tessin. Jetzt scheint der Südkanton weniger betroffen als der Rest des Landes. Dennoch ist der Kantonsarzt besorgt, unter anderem wegen der vielen Deutschschweizer Touristen.
«Die meisten Corona-Toten hat das Tessin.» Diese Schlagzeile dominierte während der Covid-19-Krise über etliche Wochen hinweg. Erst gegen Ende der ersten Welle wurde der Südkanton bei den Todesfällen und den Ansteckungszahlen vom Waadtland, von Genf und Zürich überholt. Die Zahl der Tessiner Toten pendelte sich Mitte Juni bei 350 Personen ein und ist bisher unverändert geblieben. Angesteckt haben sich seit Beginn der Pandemie im Südkanton 3416 Personen. Schweizweit sind 1694 Todesfälle zu verzeichnen, und die Gesamtzahl der laborbestätigten Infektionen beläuft sich auf 34 000.
Wie ist nun die Lage im Südkanton, was neue Ansteckungen anbelangt? Nach dem Corona-Peak von Ende März seien die Zahlen stetig gesunken, sagt der Tessiner Kantonsarzt Giorgio Merlani. Gemäss seinen Worten verlief der Juni mit wenigen isolierten Fällen extrem ruhig. Ab Juli gab es wenige endemische Herde, die man schnell unter Kontrolle brachte. In letzter Zeit allerdings träten Ansteckungen konstant auf, so Merlani. Aber es gebe fast nie mehr als 10 Fälle täglich. Zum Vergleich: Auf dem Höhepunkt der Krise verzeichnete man im Tessin am schlimmsten Tag 273 Neuansteckungen.
Weniger Neuinfektionen als in anderen Kantonen
Schweizweit begann die Ansteckungskurve in den ersten Aprilwochen stark zu sinken. Gemäss den Angaben des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) war die Situation zwischen Mitte Mai und Mitte Juni sehr ruhig: Die Zahl der täglichen Neuinfektionen betrug meist deutlich weniger als 40 Fälle. Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise war diese Zahl bis auf 1456 angesteckte Personen an einem einzigen Tag angestiegen. Seit Ende Juni präsentiert sich die Situation in der Schweiz insgesamt wieder schlechter: Das BAG verzeichnet zwischen 26 und 159 Neuansteckungen pro Tag, häufig über 100 täglich.
Dem Südkanton sei es gelungen, die Ansteckungskurve massiv zu senken, hält der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi fest. «Und der Anstieg der Neuinfektionen in den letzten Wochen fällt in vielen Kantonen höher aus als im Tessin.» Wie die Verlaufskurve auf der BAG-Website zeigt, schwankt zum Beispiel die Zahl der Neuansteckungen im Kanton Zürich seit Anfang Juli ungefähr zwischen 5 und 30 laborbestätigten Fällen pro Tag. Ähnlich zeigt sich die Lage auch im Kanton Genf.
Das deutliche Absinken der Tessiner Fallzahlen nach der ersten Welle führt Gobbi nicht nur auf die zum Teil harten Massnahmen der kantonalen Behörden zurück. Auch sei die Sensibilität im Tessin ziemlich hoch, so der Regierungspräsident. Zumal das von Covid-19 schwer getroffene Italien in unmittelbarer Nachbarschaft liege.
Jedoch stellt Gobbi vor allem unter den jüngeren Tessinern ein Nachlassen der Vorsicht fest. Dies hängt aus seiner Sicht eindeutig mit den Sommerferien zusammen. Dazu erklärt Mattia Lepori, medizinischer Vizedirektor der Tessiner Kantonsspitäler: Etwa die Hälfte der Neuinfizierten habe das Virus im Ausland eingefangen – und zwar nicht nur in den Risikoländern. Insgesamt hätten sich seit Anfang Juli um die 166 Personen in Quarantäne begeben, die aus anderen Ländern in den Südkanton zurückgekehrt seien.
Maskenpflicht für Kellner
Manche Tessiner steckten sich laut Lepori aber auch in anderen Kantonen mit Covid-19 an. Daher sind Lepori und der Kantonsarzt Merlani besorgt wegen der Deutschschweizer Touristen. Denn viele von ihnen verzichten heuer auf Auslandferien und sind im Tessin massiv präsent. Die zahlreichen inländischen Touristen könnten weniger pflichtbewusst sein, was die Einhaltung der Corona-Vorschriften angehe, meinen die beiden Ärzte. Zudem würden auch viele Tessiner selber im eigenen Kanton Ferien machen, was zu einer weiteren Massierung führe.
Gemäss Gobbi hat die Kantonsregierung gleich beim ersten Anstieg der Neuansteckungen gehandelt. So reduzierte sie die Höchstzahl der Gäste in öffentlichen Lokalen und Diskotheken auf 100 Personen für die Zeitspanne eines ganzen Abends. Zudem dürfen sich nur noch maximal 30 Personen draussen versammeln.
Neu müssen seit dieser Woche alle Angestellten von Restaurants und Bars eine Gesichtsmaske tragen. Das finde gerade bei den Touristen wenig Anklang, sagt Merlani. Doch er wie auch Gobbi betonen: Die Gastwirtschaft begünstige gerade im Sommer die Ansammlung von Menschen. Zudem berühre und bereite das Personal Dinge zu, welche dann in den Mund der Gäste gelangten. Also seien hier Schutzmassnahmen besonders angebracht – aber nicht weil es ein akutes Probleme gebe, sondern weil man ein solches vermeiden wolle. Die Maskenpflicht für Kellner und Barkeeper gilt vorerst bis 8. August, doch könnte die Kantonsregierung je nach Situation eine Fristverlängerung ins Auge fassen.
Der Tessiner Staatsrat denkt auch an weitere Vorkehrungen. Bereits hat er die Detailhändler und ihre Zulieferer ermahnt, die Schutzmassnahmen nicht zu vernachlässigen. Nun schliesst die Kantonsregierung auch für die Einkaufsläden eine Maskenpflicht nicht aus.
All diese speziellen Vorschriften liegen in der Befugnis der einzelnen Kantone. Die vom Bundesrat erweiterte Corona-Verordnung des Epidemiengesetzes erlaubt es ihnen, je nach Situation Ad-hoc-Massnahmen zu ergreifen. Zuvor hatte das von Covid-19 besonders versehrte Tessin eigenmächtig Schritte unternommen, um die Verbreitung einzudämmen – mit Erfolg.
Zweite Welle vermeiden
Genau das ist dem Tessiner Regierungspräsidenten so wichtig: Dank der vom Bund gewährten Autonomie könnten die Kantone bei der Corona-Bekämpfung gezielter vorgehen. Denn die Situation präsentiere sich je nach Landesteil und Kanton manchmal ziemlich unterschiedlich.
Im Moment stellt der Kantonsarzt Merlani keine Anzeichen für einen weiteren Anstieg der Ansteckungszahl fest. Dennoch ist er besorgt: Angesichts der Touristenmassen im Südkanton sowie der Tessiner, die sich in den Auslandsferien ansteckten, könnte es rasch deutlich mehr Infizierte geben.
Ist also das Tessin momentan noch eine Insel der Seligen im Vergleich zur Restschweiz? Merlani meint dazu: «Ich würde eher von einer Insel sprechen, deren Bewohner eine zweite