Dalla Nzz del 12 luglio 2016
Im Tessin kommen zurzeit vor allem Migranten aus Afrika an. An der Südgrenze hat die Zahl der rechtswidrigen Aufenthalter massiv zugenommen. In Chiasso, wo die meisten Flüchtlinge ankommen, herrscht angespannte Ruhe.
Das Grenzstädtchen Chiasso schmort wie gelähmt in der Julihitze. Doch im Bahnhof stellt man Hektik fest. Viele Uniformen sind zu sehen, vor allem die blauen der Grenzwächter und einige der Tessiner Kantonspolizei. Die Beamten durchsuchen jeden einzelnen Zug, der aus Italien kommt, nach illegalen Flüchtlingen. Dazu haben sie allen Grund: Tendenziell wählt eine knappe Mehrzahl der Migranten, die offiziell oder heimlich in der Schweiz Zuflucht suchen oder auf der Durchreise sind, den Weg mit dem Zug über Chiasso – und in den letzten Wochen hat sich die Zahl der klandestinen Personen gleich mehr als verdreifacht.
Noch im Mai griffen die Grenzwächter in Chiasso insgesamt etwa 1200 «rechtswidrige Aufenthalter» auf. Also Personen, welche die Einreise- und Aufenthaltsbedingungen für die Schweiz oder den Schengenraum nicht erfüllen und die nicht in jedem Fall Flüchtlinge sind. Diese Menge entsprach ungefähr der Zahl vom Vorjahr, denn in den Sommermonaten nimmt der Andrang der Migranten an der Südgrenze immer zu.
Zehn Personen pro Zug
Doch seit Ende Mai steigt die Zahl der wöchentlichen illegalen Ankömmlinge drastisch: Wie das Grenzwachtkorps am Montag mitgeteilt hat, sind allein letzte Woche 1321 rechtswidrige Aufenthalter von den Beamten registriert worden. Rechnet man alle vorangegangenen Wochen bis Anfang Juni dazu, ergibt sich eine Zahl von ungefähr 5000 Personen. Die meisten stammen aus Eritrea, es folgen Afghanen und Gambier.
Fast in jedem Zug aus Italien griffen die Grenzwächter etwa zehn bis zwölf verdächtige Personen auf, sagt ein Lokomotivführer. Er macht gerade Pause in der Bahnhofsbar, und trotz seiner Auskunftsfreudigkeit möchte er seinen Namen nicht nennen. Aus seiner Sicht hat sich generell in der letzten Zeit die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber mehr als verdoppelt, aber beunruhigt ist er momentan nicht. Der Lokomotivführer hofft einfach, dass nicht noch mehr kämen. Auch Chiassos freisinniger Stadtpräsident Bruno Arrigoni bleibt eher gelassen. Bund und Kanton hätten die Stadt schon vor geraumer Zeit informiert, dass mit einem massiven Zustrom illegaler Aufenthalter zu rechnen sei. Zudem kämen die Grenzwächter mit der Situation so gut zurecht, dass bisher keine Probleme aufgetaucht seien.
Gemäss Arrigonis Worten lassen die Bundesbehörden auch das mögliche Szenario nicht ausser acht, dass mehr als 5000 Illegale in einem einzigen Monat nach Chiasso gelangen. Dies hänge stark von der italienisch-österreichischen Grenze am Brenner ab: Würde dieser Übergang scharf kontrolliert und landeten auch mehr Flüchtlingsschiffe in Sizilien, dann begänne sich der Sindaco der Grenzstadt Sorgen zu machen.
Keine Migranten aus Syrien
Jedoch wundert sich Arrigoni, wo die Syrer geblieben sind. Laut dem Tessiner Justiz- und Polizeidirektor Norman Gobbi (Lega) sind gegenwärtig keine Syrer in Chiasso anzutreffen. Vielmehr handle es sich um Migranten aus afrikanischen Ländern, in denen kein Krieg herrsche. Daher fordert Gobbi eine klare Trennung zwischen Kriegs- und Armutsflüchtlingen. Er plädiert für eine harte Linie angesichts der Tatsache, dass momentan kaum Flüchtlinge aus Konfliktgebieten in Erscheinung treten. Dennoch erwarte man wie vor einem Jahr auch heuer einen «heissen Sommer», so der Polizeidirektor. – Laut der Schweizerischen Depeschenagentur hat das Grenzwachtkorps zwischen Januar und Juni 2016 insgesamt 14 600 Menschen aufgegriffen, die sich illegal in der Schweiz aufhielten. Das waren etwa halb so viele wie im ganzen Jahr 2015. Gemäss dem Datenmaterial der Eidgenössischen Zollverwaltung nahm von den heurigen illegalen Ankömmlingen bisher die Hälfte den Weg über Chiasso; hierbei schafften die Grenzwächter seit Jahresbeginn ungefähr 2000 dieser Personen nach Italien zurück. Das ist etwa ein Drittel der rechtswidrigen Aufenthalter in Chiasso in diesem Jahr. Allerdings hat die Grenzwacht von den 1321 Personen, die allein letzte Woche ankamen, gleich 966 nach Italien zurückgeschickt. Ist das der Beginn einer härteren Linie?
Polizisten als Grenzschützer
In einem «Asylnotfall» würden Polizeiangehörige Aufgaben der Grenzwache übernehmen. Von Lisa Wildi
Im April 2016 haben Bund, Kantone, Städte und Gemeinden im «Notfallplan Asyl» die Aufgabenbereiche im Falle eines raschen und starken Anstiegs von Asylgesuchen definiert. Demnach würden dem Grenzwachtkorps (GWK) kantonale Polizeikorps beistehen, mit Patrouillen im grenznahen Raum. Bei sehr grossen Flüchtlingsbewegungen würde das GWK zudem mit bis zu 2000 Armeeangehörigen und Material in den Bereichen Logistik, Bau, Transport und Verkehr unterstützt. Um das Grenzwachtkorps auch mit Militärpolizisten zu verstärken, würden sie beim Schutz ausländischer diplomatischer Vertretungen durch Milizsoldaten ersetzt, die im Alltag Polizisten sind. Kritische Stimmen mahnen, Polizisten und Militärpolizisten könnten Grenzwächter zwar unterstützen, aber nicht ersetzen, weil sie nicht über die entsprechende Ausbildung verfügten. Doch inwiefern unterscheiden sich die Ausbildungen der Grenzwache, der Militärpolizei und der Polizei tatsächlich?
Feine Unterschiede
Die Ausbildung der Militärpolizei und der Polizei ist seit 2010 identisch, seither absolvieren Militärpolizisten die zivile Polizeiausbildung. Die Ausbildungen der Polizei und der Grenzwache wiederum sind sich inhaltlich und strukturell in vielen Bereichen sehr ähnlich. Dies zeigen ein Vergleich von Ausbildungsprogrammen und Lehrplänen sowie mehrere Unterrichtsbesuche und Gespräche mit Ausbildungsverantwortlichen. Die Grundausbildung dauert sowohl bei der Polizei wie auch der Grenzwache ein Jahr und endet mit einer eidgenössischen Berufsprüfung. Grenzwächter müssen jedoch nach der Grundausbildung zwei obligatorische Weiterbildungsjahre durchlaufen und gleichzeitig an zweien der drei künftigen Einsatzorte (mobile Patrouillen, Flughafen oder Bahn) tätig sein. Polizeineulinge absolvieren oft auch Eingliederungsprogramme in ihren Stammkorps, doch erreichen sie meist keine drei Jahre Ausbildungszeit wie ihre Kollegen der Grenzwache.
Ein gemeinsamer inhaltlicher Schwerpunkt der Grenzwacht- und der Polizeiausbildung ist die Sicherheits- und Interventionstaktik (Selbstverteidigung, Umgang mit Zwangsmitteln, Einsatztaktik usw.). In manchen dieser Fächer werden sogar dieselben Lehrmittel genutzt. Weitere gemeinsame Ausbildungsteile, allerdings mit unterschiedlich vielen Lektionen, bilden unter anderem die Fächer Ordnungsdienst, Verkehrskontrolle, Kriminalistik und Community Policing (bürgernahe Polizeiarbeit). Die beiden letztgenannten Fächer bilden Schwerpunkte der Polizeiausbildung, sie werden in der Grenzwachtausbildung weniger detailliert behandelt.
Auch im Bereich «Recht» und «Psychosoziale Kompetenzen» sind inhaltliche Überschneidungen festzustellen. Polizisten wie Grenzwächter setzen sich mit Straf- und Strassenverkehrsrecht, mit Konflikt- und Krisenmanagement sowie Berufsethik und Menschenrechten auseinander. Bei all den Gemeinsamkeiten gibt es dennoch kleine, aber feine Unterschiede. Etwa beim Fach Recht, bei dem es klare Grenzwacht- und Polizeithemen gibt. Ein Aspirant der Grenzwache setzt sich beispielsweise intensiv mit zollrechtlichen Fragen auseinander, lernt im Gegensatz zu einem Aspiranten der Polizei jedoch keine zivilrechtlichen Grundlagen. Im Fach Psychologie werden angehende Polizisten umfassender ausgebildet als Angehörige des GWK. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sie im späteren Alltag öfter mit Schicksalsschlägen und zwischenmenschlichen Konflikten konfrontiert sind. Daneben gibt es auch Themenblöcke, die dem GWK eigen sind, wie die Fahndung, die Dokumentenprüfung und die sogenannten «allgemeinen Grenzwachtfächer», in denen unter anderem Schengen/Dublin-Abläufe, Asylverfahren und Rückübernahmeabkommen behandelt werden.
Nachschulung erforderlich
Die Ausbildung der Grenzwache unterscheidet sich somit von derjenigen der Polizei in der Länge und in der internationalen Ausrichtung einiger Ausbildungsteile, in welchen auch für den «Notfallplan Asyl» relevante Themen wie Dokumentenprüfung, Asylverfahren oder Dublin-Abkommen behandelt werden. Die sicherheitspolizeilichen und ordnungsdienstlichen Fächer sind jedoch quasi identisch, genauso wie der Unterricht zu den Sozialkompetenzen, zum Konflikt- und Krisenmanagement. Dies würde sich bei einem ausgeprägten «Asylnotfall» als nützlich erweisen.
Zudem könnten Polizisten dank ihrer Ausbildung und oft ihrer Erfahrung auch für die Betreuung von Flüchtlingen eingesetzt werden. Auch bei der Militärpolizei kann man wohl auf Erfahrungen zurückgreifen, weil Militärpolizisten bis 2009 das GWK oft unterstützt haben. Für eine noch stärkere Einbindung von (Militär-)Polizisten in die Arbeit des GWK im Asylbereich müssten diese aber mindestens hinsichtlich Asylverfahren und Dubliner Abkommen nachgeschult werden. Demnach kann ein Polizist einen Grenzwächter aufgrund der Ausbildung tatsächlich nicht eins zu eins ersetzen, genauso wenig wie umgekehrt, könnte aber in einem «Asylnotfall» in vielen Bereichen problemlos Aufgaben übernehmen.
Lisa Wildi ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Centre for Security Studies (CSS) an der ETH Zürich.