Krisenfestes Mobilfunknetz wird zur Mammutaufgabe – Kantone und Bund streiten um 3 Milliarden Franken

Krisenfestes Mobilfunknetz wird zur Mammutaufgabe – Kantone und Bund streiten um 3 Milliarden Franken

Das bestehende Funknetz von Polizei, Feuerwehr und Sanität kommt in weniger als zehn Jahren an sein Lebensende. Nun hat Bundesrätin Viola Amherd den Startschuss für ein Nachfolgesystem gegeben.
Die katastrophalen Unwetter der letzten Wochen haben es gezeigt: Ausgerechnet, wenn man sie am dringendsten braucht, brechen die normalen Kommunikationsnetze zusammen. So fiel im oberen Maggiatal während Stunden der Handyempfang aus, nachdem das Tal überflutet worden war. Internet und Festnetz funktionierten noch länger nicht.
«Nur dank dem nationalen Funknetz Polycom konnten Polizei, Feuerwehr, Sanität und andere Einsatzkräfte ihre Hilfsaktionen koordinieren und der Bevölkerung helfen», so beschreibt der Tessiner Polizeidirektor Norman Gobbi die dramatische Situation vor wenigen Wochen.
Im Krisenfall funktioniert die Kommunikation für die sogenannten Blaulichtorganisationen und die Führungsstäbe also noch, während die kommerziellen Systeme teilweise ausfallen. Das Polycom-Funknetz wird landesweit täglich von rund 60 000 Benutzern des Bundes, der Kantone sowie von Betreibern kritischer Infrastrukturen verwendet. Zu den kritischen Infrastrukturen gehören Strassen, Bahnen und Kraftwerke.
Doch der Blick in die Zukunft bereitet Gobbi und zahlreichen anderen Sicherheitsexperten grosse Sorgen. Der Zeitpunkt ist absehbar, zu dem das vor 25 Jahren installierte und bereits einmal komplett erneuerte Polycom-Funknetz das Ende seiner Lebensdauer erreicht. Gleichzeitig muss das System aufgrund der technischen Entwicklung digitalisiert werden. Neben der Sprachkommunikation sollen auch Daten, Bilder und Videos über das neue Mobilfunknetz übertragen werden können. Mit Polycom ist dies derzeit nicht möglich.

Im Ernstfall droht das Blackout
Spätestens 2035 muss das neue ausfallsichere Mobilfunknetz in Betrieb sein, und zwar in der ganzen Schweiz. Sonst droht der Schweiz im Ernstfall ein Blackout. Dies zeigte die letzte nationale Sicherheitsverbundsübung im November 2019. Dabei stellten die beteiligten Stellen fest, dass die Datenübertragung der Einsatzkräfte durch Ausfälle und Störungen der kommerziellen Telekommunikationsnetze massiv gestört wird. Solche Situationen träten bereits heute im Alltag ein und dürften durch Terror- und Cyberattacken noch weiter zunehmen, heisst es im Abschlussbericht der Übung.
Die Bedeutung eines solchen Systems sei deshalb nicht zu unterschätzen, betont Gobbi. «Es geht um nichts Geringeres als um die Sicherheit der Bevölkerung. Im Alltag und erst recht bei Katastrophen und in Notlagen ist sie darauf angewiesen, dass die Blaulichtorganisationen und die Führungsorgane über ein gemeinsames und funktionierendes Kommunikationssystem verfügen», erklärt der Politiker, der sich in der Regierungskonferenz Militär, Zivilschutz und Feuerwehr sowie in der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren intensiv mit dem Vorhaben auseinandergesetzt hat.
Die Gefahr ist seit langem bekannt. Hinter den Kulissen liefen intensive Diskussionen zwischen dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz, den Kantonen und den betroffenen Betreibern kritischer Infrastrukturen. Ohne dass etwas Zählbares herausgekommen wäre. «Wir haben fast zehn wertvolle Jahre verloren», sagt Gobbi. Der Tessiner Staatsrat muss es wissen, ist er doch Präsident des strategischen Ausschusses der Organisation Polizeitechnik und -informatik Schweiz (PTI). Dieses Gremium spielt bei der Beschaffung des neuen Systems eine Schlüsselrolle.
Unmittelbar vor der Sommerpause hat die für den Bevölkerungsschutz zuständige Bundesrätin Viola Amherd den politischen Startschuss gegeben. Der Bundesrat hat die Vernehmlassung eröffnet. Sie dauert bis zum 24. Oktober 2024.
Dass es sich bei dem nun aufgegleisten nationalen mobilen Sicherheitskommunikationssystem (MSK) gemäss Beteiligten um eine «Riesenkiste» handelt, zeigt der Preis. Die Gesamtkosten werden vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) auf über 2,9 Milliarden Franken veranschlagt. Davon entfallen 1,1 Milliarden auf die Beschaffung. Weitere 1,8 Milliarden sind für die Einführungsphase vorgesehen, die zwischen 2026 und 2035 erfolgen soll.

Kostenverteilung ist umstritten
Bereits im Vorfeld hatte der vorgesehene Kostenschlüssel für viel Diskussionsstoff gesorgt. Die Vernehmlassungsvorlage sieht einen Kostenteiler von 30 Prozent für den Bund und 70 Prozent für die Kantone vor. Angesichts der Milliardenbeträge, um die es geht, ist dieser Verteilschlüssel keineswegs in Stein gemeisselt.
Norman Gobbi geht davon aus, dass die Finanzen in der Vernehmlassung und vor allem im nationalen Parlament noch einmal zu reden geben werden. Auch von den Kantonen werden wohl Anträge kommen, den Bund finanziell stärker in die Pflicht zu nehmen. Die Beteiligung der Kantone richtet sich nach der Einwohnerzahl. Bevölkerungsreiche Kantone zahlen mehr, kleinere Kantone weniger.
Im Vernehmlassungsbericht ist auch festgehalten, was das MSK alles können muss. Die Führungsorgane von Bund, Kantonen und Gemeinden, die Blaulichtorganisationen sowie die Betreiber kritischer Infrastrukturen müssen kommunizieren können, wenn die kommerziellen Netze überlastet sind. Das gesamte Gebiet der Schweiz und des Fürstentums Liechtenstein muss abgedeckt werden. Die Sendeleistung muss auch innerhalb von Gebäuden sowie in Eisenbahn- und Strassentunneln gewährleistet sein.
Die Netzinfrastruktur muss gegen Stromausfälle gehärtet (besonders gesichert) sein, so dass sie an definierten Sendestandorten während mindestens 72 Stunden ohne Notstromaggregat betrieben werden kann. Die Härtung der Netzinfrastruktur muss auch gegen Cyberangriffe wirksam sein. Für die notwendige Übertragung von Daten im Krisenfall müssen Frequenzen zur Verfügung gestellt werden. Die Notfallorganisationen sollen in Zukunft auch Lagebilder übermitteln können. Weil dies mit dem bestehenden Polycom nicht möglich ist, greifen Polizisten und Feuerwehrleute bereits heute immer häufiger auf ihr privates Smartphone zurück.
Diese Ziele sollen nach dem Willen des Bundesrates mit einer kombinierten Variante erreicht werden. Dazu werden einzelne Standorte des kommerziellen Mobilfunknetzes gehärtet. Eine Härtung des gesamten Systems wäre nicht finanzierbar. Ausserdem wird ein MSK-Hybridnetz aufgebaut. Dabei handelt es sich um die Kombination eines Kernnetzes, das der öffentlichen Hand gehört und von gewissen Teilen der Netze von privaten Telekomanbietern. Ein solch komplexes System ist ohne die Armee nicht realisierbar. Die Mitbenutzung militärischer Infrastruktur spielt in den Plänen eine nicht unwesentliche Rolle.
Das MSK ist nicht nur für den Krisenfall vorgesehen, sondern soll für die tägliche Kommunikation in allen Regionen der Schweiz und über internationales Roaming auch im grenznahen Ausland rund um die Uhr zur Verfügung stehen. Der Bundesrat will diese Kombi-Variante gestaffelt einsetzen. Damit soll neuen technologischen Entwicklungen wie der Satellitentelefonie Rechnung getragen werden.
Eine schrittweise Einführung von Kanton zu Kanton, wie dies noch bei Polycom der Fall war, kommt nicht infrage. Die Erfahrungen aus der Vergangenheit sind zu schlecht. Es dauerte nicht weniger als siebzehn Jahre, bis das Polycom-Funknetz von allen rund 60 000 Benutzern des Bundes, der Kantone sowie der Betreiber kritischer Infrastrukturen genutzt werden konnte.
Die angestrebte gleichzeitige Einführung auf allen Stufen erhöht den Druck auf alle Beteiligten. Es ist eine grosse Herausforderung, ein derart komplexes System in etwas mehr als zehn Jahren zum Laufen zu bringen.

Neat-Organisation als Vorbild
Die Zahl und Vielfalt der beteiligten Behörden und Organisationen ist in dieser Form ziemlich einzigartig. Von der Armee über das Bundesamt für Bevölkerungsschutz, die Kantone, die Betreiber kritischer Infrastrukturen bis hin zu Polizei und Feuerwehr ist so ziemlich alles vertreten, was im Krisenfall gebraucht wird.
Der vom Bundesrat Ende Juni verabschiedete Bericht enthält keine Informationen darüber, wie die Organisation im Detail aussehen soll, die sicherstellt, dass das MSK termingerecht und ohne Kostenüberschreitung realisiert werden kann. Geprüft wird jedoch ein Organisationsmodell, das sich an einem anderen Megaprojekt orientiert, das die Schweiz vor ein paar Jahren erfolgreich abschliessen konnte: die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat). Mit dieser Organisationsform, die unter anderem eine parlamentarische Oberaufsicht vorsieht, sollen insbesondere die Projektrisiken minimiert werden.
Es brauche eine adäquate Organisation ausserhalb der Bundesämter und der Kantone, die aber von Bund und Kantonen gemeinsam getragen und gesteuert werde, betont Gobbi. «Als Beispiel könnte das Modell zur Realisierung des Neat-Basistunnels dienen.» Bei dem 16-Milliarden-Projekt gab es ein Dreiecksmodell mit einem Besteller, einem Ersteller und einem Betreiber. Dies stellte sich als Erfolgsfaktor heraus, weil die Interessen zwischen dem Bund als Besteller und Geldgeber, der Alptransit Gotthard AG als Erstellerin und den SBB als Betreiber sauber voneinander abgegrenzt werden konnten. In einem Workshop soll dieser Ansatz für das MSK demnächst geprüft und vertieft werden.

https://www.nzz.ch/schweiz/krisenfestes-mobilfunknetz-wird-zur-mammutaufgabe-kantone-und-bund-streiten-um-3-milliarden-franken-ld.1837759