Wo sind die Flüchtlinge, Herr Gobbi?

Wo sind die Flüchtlinge, Herr Gobbi?

Intervista pubblicata su www.watson.ch

Im Sommer 2016 campierten hunderte Flüchtlinge am Bahnhof von Como. Der Tessiner Regierungsrat Norman Gobbi forderte damals die Grenzschliessung.
Er wollte die Grenzen schliessen und warnte vor Ausländerkriminalität. Doch die Prognosen des Tessiner Sicherheitsdirektors Norman Gobbi bewahrheiteten sich bisher nicht. Ein Gespräch über den ausbleibenden Flüchtlingsansturm, Matteo Salvini und das Tessin.

Herr Gobbi, Sie sehen erholt aus, waren Sie in den Ferien?
Norman Gobbi: Ich bin gebräunt, aber nicht unbedingt erholt. Ich war wandern im Maggia- und Leventina-Tal.

Sommerzeit ist nicht nur Ferienzeit. In den Monaten Juli und August steigen für gewöhnlich auch Flüchtlingszahlen, weil dann mehr Menschen die Fahrt über das Mittelmeer wagen. Nur: Dieses Jahr ist davon in der Schweiz nichts zu spüren. Warum?
Das liegt an der italienischen Politik. Dort hat der Innenminister Matteo Salvini die Migrationsströme über die zentrale Mittelmeer-Route gestoppt. Das hat die Flüchtlinge und deren Schlepper gezwungen, auf die westliche Mittelmeer-Route auszuweichen. Diese Politik wirkte sich stark auf die Migrationszahlen in der Schweiz aus.

Noch vor ein paar Jahren haben Sie an der Tessiner Grenze vor einem Ansturm gewarnt. 2015 forderten Sie eine Grenzschliessung. War das blosse Panikmache?
Nach wie vor versuchen Leute illegal in die Schweiz einzureisen. Insgesamt war das Jahr 2018 zwar ein ruhiges. Schweizweit wurden rund 16’000 illegale Grenzübertritte registriert. Diese passierten allerdings in 40 Prozent der Fälle im Tessin. Und die wenigsten Menschen, die wir an der Grenze aufgreifen, wollen in der Schweiz ein Asylgesuch stellen. Die meisten müssen wir an die italienischen Behörden übergeben.

«Glücklicherweise waren die Migranten von 2016 ‹besser› als jene, die nach dem arabischen Frühling in die Schweiz kamen.»

Aber die heutigen Zahlen rechtfertigen eine Grenzschliessung noch weniger als im Krisenjahr 2015. Wo sind die Flüchtlinge, vor denen Sie warnen?
Das Problem ist folgendes: Von zehn Flüchtlingen in einem Aufnahmezentrum wurde nur einer vom Grenzwachkorps überstellt. Wie sind also die neun anderen in die Schweiz gelangt? Diese Zahlen zeigen, wie nötig die Kontrollen an den Grenzen nach wie vor sind. Darum bleibt meine Haltung dieselbe: Wir müssen die Augen offen behalten.

Ein Jahr danach, im Sommer 2016, campierten hunderte Migranten am Bahnhof in Como. Sie wollten die Militärpolizei aufbieten und warnten davor, dass jeder Flüchtling kriminell werden können. Ihre Schreckensszenarien haben sich nicht bewahrheitet.
Glücklicherweise waren die Migranten von 2016 «besser» als jene, die nach dem arabischen Frühling in die Schweiz kamen. Damals waren es vor allem Leute aus nordafrikanischen Ländern, die in der Schweiz häufig kriminell wurden. Das schlug sich auch in der Kriminalstatistik nieder, die in den Jahren 2012 und 2013 einen Anstieg von Straftaten durch Asylsuchende verzeichnete.

Oder malten Sie damals einfach den Teufel an die Wand?
Nein! Ich habe nicht grundlos schwarzgemalt. Ich berief mich auf die Erfahrungen, die man mit grossen Zuströmen aus nordafrikanischen Staaten gemacht hat. Diese Erfahrungen zeigten, dass es damals ganz klar eine Verschlechterung der inneren Sicherheit gab. Nicht vergessen darf man, dass mit der Migration auch die nigerianische Mafia zu uns gekommen ist.

«Ab September wird die Migration über die zentrale Mittelmeerroute wieder zunehmen. Das hat direkte Konsequenzen für uns im Tessin.»

Heute beschäftigt die Schweizerinnen und Schweizer nicht die Ausländerkriminalität, sondern das Klima. Haben Sie in den vergangenen Jahren das Thema verfehlt?
Als Staatsrat vom Kanton Tessin bin ich für die innere Sicherheit zuständig. Und das ist eine dauernde Aufgabe und nicht so vorübergehend, wie es derzeit die Klima-Thematik ist. Solche Bewegungen muss man immer in ein realistisches Verhältnis setzen. Auch nach der Fukushima-Katastrophe 2011 gab es eine «grüne Welle», die dann wieder abflaute. Jetzt ist ein Hype um das Klima entstanden. Die innere Sicherheit, der Schutz der Bevölkerung, ist eine Hauptaufgabe des Staates, die immer und konstant zu gewährleisten ist.

Anders sieht die Lage in Italien aus. Die Diskussionen über die Migration über das Mittelmeer beschäftigen die Politik derzeit intensiv. Was sind Ihre Gedanken dazu?
Mich besorgt derzeit vor allem, dass der Rücktritt von Premierminister Giuseppe Conte eine sofortige Wirkung auf die Migration über das Mittelmeer hatte.

Sie sprechen das NGO-Schiff «Open Arms» an, das noch am Abend nach Contes Rücktritt in den Hafen von Lampedusa eingefahren ist, nachdem es zuvor fast drei Wochen auf dem Mittelmeer blockiert war.
Mit Contes Rücktritt zerfiel auch die Migrationspolitik von Innenminister Salvini. Das ändert die Situation komplett. Ab September wird die Migration über die zentrale Mittelmeerroute wieder zunehmen. Das hat direkte Konsequenzen für uns im Tessin. Es werden wieder mehr Leute versuchen, über die Südgrenze in die Schweiz einzureisen.

Der Lega-Politiker Salvini spaltet Italien. Mit seinem Misstrauensvotum hat er eine Regierungskrise ausgelöst. Wie stehen Sie zu seiner Politik?
Salvini war in letzter Zeit etwas zu oft auf der «Piazza» und um seine Popularität bemüht. Er hätte vielleicht mehr Arbeit in die Regierung stecken sollen. Seine harte Hand bei der Migrationsfrage schätze ich aber. Denn je weniger in Italien ankommen, umso weniger gelangen ins Tessin.

«Wir dürfen uns nicht mit der Humanität erpressen lassen. Schliesslich haben wir diese Leute nicht zu uns eingeladen.»

Salvini polarisiert auch, weil er ganz am rechten Rand politisiert.
Seine Gegner nennen ihn einen Faschisten. Aber wenn einer, der eine restriktive Migrationspolitik durchsetzt, gleich als Faschist gilt, dann müssten die Sozialdemokraten in der Schweiz – gemäss ihrem Parteiprogramm – alle Kommunisten sein.

Salvini hat klar Probleme, sich von rechtsextremen Strömungen abzugrenzen. Sein Buch veröffentlichte er bei einem Verlag, dessen Gründer sich selbst als Faschist bezeichnet.
Ja, das ist tatsächlich ein ungelöstes Problem in Italien. Seit den 40er-Jahren wird jeder, der nur ein wenig ausserhalb der Mitteparteien politisiert, sofort mit den rechten oder linken Extremen identifiziert.

Sie begrüssen also Salvinis Politik der geschlossenen Häfen. Diese hatte nicht nur zur Folge, dass vergangenes Jahr weniger Menschen nach Italien kamen, sondern auch, dass die Todesrate im Mittelmeer massiv anstieg. Gibt Ihnen das nicht zu denken?
Sicher ist das tragisch. Aber wir dürfen uns nicht mit der Humanität erpressen lassen. Schliesslich haben wir diese Leute nicht zu uns eingeladen. Sie sind nicht die Ärmsten und auch nicht diejenigen, die es am nötigsten haben. Es sind immer junge Männer, die meiner Einschätzung nach sehr gesund aussehen. Diese Art von Migration ist nicht gewollt.

Welche Art von Migration wollen Sie denn?
Wir haben in der Schweiz die Personenfreizügigkeit, unsere Tore stehen also grundsätzlich offen. Die Bedingung für dieses Abkommen für eine Migration innerhalb von Europa war allerdings ursprünglich, dass wir dafür die europäischen Aussengrenzen besser schliessen. In der Realität haben wir heute aber eine Personenfreizügigkeit plus eine interkontinentale Migration. Das stimmt so für mich nicht. Entweder oder.

Was also schlagen Sie vor?
Wir müssen aufhören zu denken, dass wir alle Migranten aufnehmen können. Schauen Sie sich doch mal die anerkannten Asylbewerber in der Schweiz an. Nur sein sehr kleiner Teil von ihnen ist erwerbstätig. Den anderen müssen die Kantone und der Bund Sozialhilfe bezahlen. Für mich ist das eine unbefriedigende Situation. Denn das sind Ressourcen, die wir auch für unsere eigene jüngere und ältere Generation brauchen. Und in die Migration fliessen sowieso schon Milliarden.

Wie soll denn eine europäische Migrationspolitik aussehen? Ist es nicht auch die Aufgabe der Schweiz, solidarisch zu sein?
In der Schweiz ist die Migrationspolitik schon heute solidarisch. Darum wird das Tessin mit dem Problem nicht alleine gelassen, sondern die Flüchtlinge werden auf die anderen Kantone verteilt. Und natürlich können wir nicht denken, dass die südlichen Länder, die ja schon wirtschaftlich nicht gut dastehen, die ganze Verantwortung alleine tragen müssen. Das Problem ist aber, dass die ehemaligen Ostblock-Staaten eine gerechte Verteilung blockieren.

«Der Vater holt dann seine Frau nach, dann gründen sie eine Familie und das Kind wächst auf mit dem Bild, dass der Staat Geld gibt, ohne dass die Eltern etwas dafür tun.»

Die Haltung «Solange die anderen nicht mitmachen, mache ich auch nicht mit» ist doch auch etwas dickköpfig. Oder finden Sie, die Schweiz macht genug?
Ich bin kein Bundesrat.

Aber Sie wollten mal Bundesrat werden.

Ja, ich finde, eine solidarische Lösung ist die einzige tragbare. Bei der Verteilung können dann auch sozioökonomische Elemente als Massstab dienen. Also je wohlhabender und grösser ein Land ist, umso mehr Migranten soll es aufnehmen. Aber ich bin auch der Meinung, dass die Interessen der Schweiz nicht zu kurz kommen dürfen. Insbesondere, was die finanziellen Mittel angeht. Wir bezahlen den Flüchtlingen eine grosszügige Sozialhilfe. Der Vater holt dann seine Frau nach, dann gründen sie eine Familie und das Kind wächst auf mit dem Bild, dass der Staat Geld gibt, ohne dass die Eltern etwas dafür tun. So wächst der Baum schon von Beginn an schief und wird im Verlauf der Zeit immer schiefer.

Aber Herr Gobbi, diese Geschichte ist doch uralt: Dass Migranten in die Schweiz kommen, dem Staat auf den Taschen liegen und dann auch noch kriminell werden. In den 50er-Jahren waren es noch die Italiener…
…die in die Schweiz kamen, um zu arbeiten! Nicht um Sozialhilfe zu beziehen.

Sie behaupten, die Leute kommen in die Schweiz, mit der Absicht, Sozialhilfe zu beziehen?
Nein, sie sagen, sie kommen hierher, weil sie Schutz brauchen. Aber dann fliegen sie in den Ferien in ihr Herkunftsland zurück. Dieser Fall der Eritreer, die in ihrer Heimat Ferien gemacht haben, ist für mich ein Paradebeispiel für Betrug in der Asylpolitik.

Meine Frage war aber eine andere: Die Schreckensszenarien der unheilbringenden Migrationsbewegungen haben sich nie bewahrheitet. Die Schweiz ist nach wie vor eines der reichsten Länder der Welt. Liegen die Probleme nicht woanders? Beim Klima, dem teuren Gesundheitssystem, der AHV?
Wie sollen wir denn die AHV finanzieren, wenn wir nur Migranten aufnehmen, die keine AHV bezahlen, weil sie nur Sozialhilfe bekommen? Da hatte ja auch Frau Merkel falsch kalkuliert. Sie dachte, sie könne die Altersrenten retten, indem sie Migranten ins Land holte. Aber wenn die Migranten nicht arbeiten, bezahlen sie auch keine Sozialversicherungen. Und wenn sie die Sozialversicherungen nicht bezahlen, ist das Problem doppelt so gross: Die Ausgaben in der Sozialhilfe steigen und der Topf in den Sozialversicherungskassen bleibt leer.

«Ein Leghist, che non si incazza più ist kein Leghist mehr.»

Themawechsel: Ihre Lega die Ticinesi wurde 1991 als Protestpartei gegründet. Wofür steht die Lega heute?
Ich sage immer: Ein Leghist, che non si incazza più (der nicht mehr wütend wird) ist kein Leghist mehr. Das heisst, dass wir heute zwei Seelen in uns tragen. Jene, die auf die Barrikade geht, ebenso aber die staatstragende.

Und wann steigen Sie auf die Barrikaden?
Wenn über das Tessin hinweg politisiert wird. Wir sind eine Randregion mit Problemen, die nirgendwo sonst in der Schweiz zu finden sind. Wir sind ein Einzelfall, sprachlich und geografisch abgegrenzt. Auch Genf oder Basel sind zwar Randregionen. Aber kein Kanton in der Schweiz ist nur 50 Kilometer von einer Metropole mit europäischer Bedeutung, wie Milano, entfernt.

Wie politisiert die Lega heute?
Vor allem beim Schutz der einheimischen Arbeitsnehmenden. Darum waren wir immer auch gegen die Personenfreizügigkeit. Sie hat dazu geführt, dass im Tessin die Löhne tiefer wurden und die einheimische Arbeitskraft durch Grenzgänger ersetzt wurde.

Die Tessiner haben sich lange einen Bundesrat aus der italienischsprachigen Schweiz gewünscht. Dies hat sich mit der Wahl von Ignazio Cassis erfüllt. Hat sich für den Kanton seither etwas geändert?
Nein, eigentlich nicht.

Sind sie darüber enttäuscht?
Nein, ich habe nicht erwartet, dass sich etwas ändert. Als Bundesrat ist Herr Cassis für das ganze Land verantwortlich. Vielleicht hat er ein Auge auf das Tessin, aber er muss die ganze Schweiz vertreten, insbesondere als Aussenminister. Es ist vielmehr meine Pflicht als Tessiner Regierungsrat und die Pflicht unserer National- und Ständeräte, die Interessen vom Tessin zu vertreten.

Apropos Ständerat: Wäre das für Sie nicht der nächste Schritt auf der Karriereleiter?
Ich mache meine Arbeit immer noch mit Freude und Kraft. Solange das so ist, werde ich mich nicht für andere Mandate bewerben.

 

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