Da Die Weltwoche | Der Tessiner Lega-Staatsrat Norman Gobbi hat 35 Kilogramm abgenommen. Dies habe er mit Willenskraft und Disziplin erreicht. Auf ein Glas Wein verzichte er nicht. Er sagt, was das Tessin vom neuen Bundesrat Ignazio Cassis erwartet und was die Schweiz von Italien unterscheidet. Von Philipp Gut
Herr Gobbi, Sie haben 35 Kilogramm abgenommen. Wie haben Sie das geschafft?
Mit Willenskraft und Disziplin. Und in der Politik diszipliniert zu sein, ist nicht so einfach.
Sie denken an die vielen Apéros und an die Weissweinfraktion im Bundeshaus?
Das Glas Wein habe ich beibehalten, ich verzichte auf das Gebäck, das Bier und die schweren Alkoholika. Ich unterwerfe mich einem strengen Diätregime. Entscheidend war ein Arztbesuch Anfang dieses Jahres. Der Arzt wollte mir Pillen gegen den Bluthochdruck verschreiben. Dagegen sträubte ich mich, lieber wollte ich abnehmen.
Wie fühlt sich der neue Körper an?
Es ist einfacher beim Wandern und Treppensteigen, das habe ich sofort gespürt. Negativ ist: Ich musste die Garderobe erneuern, das geht ins Geld.
Beeinflusst das Körpergewicht Geist und Charakter eines Menschen?
Mein Charakter hat sich nicht gross geändert. Meine Körperfülle war aber immer ein Markenzeichen von mir, ich musste also ins Marketing investieren und den Leuten sagen, dass ich immer noch der Norman bin.
Es soll Leute geben, die Sie gar nicht mehr erkannt haben.
So ist es.
Werden Sie jetzt anders wahrgenommen?
Man kann mich wegen meines Gewichts zumindest nicht mehr attackieren, wie es die Linksextremen gern getan haben.
Gibt es so etwas wie ein Idealgewicht für einen Politiker?
Ich habe mich bis Ende vergangenes Jahr wohl gefühlt und mich dann entschieden, eine Kehrtwende zu machen.
Mit Ignazio Cassis hat das Tessin endlich wieder einen Bundesrat. Wie wurde die Wahl von Ihren Tessiner Landsleuten aufgenommen?
Ich war in diesem Moment nicht im Tessin, ich war in Bern.
Aber Sie kennen die Befindlichkeit der Tessiner Volksseele.
Die Wahl von Ignazio Cassis wurde mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, aber sicher nicht von allen. Das liegt in der Natur der Sache: Das Tessin ist fast immer gespalten. Einhelligkeit ist nicht unser Ding.
Wer sieht Cassis kritisch? Ihre eigene Partei, die Lega dei Ticinesi?
Wenn wir seine Wahlresultate in der Vergangenheit anschauen, dann war da nie Hochglanz. Die Unterstützung der SVP für Ignazio Cassis ist kein Blankoscheck. Sie wird genau beobachten, was er als Aussenminister entscheidet.
Was erwarten Sie von Cassis?
Wir müssen im Tessin – und das gilt auch für die anderen Grenzregionen – mit unterschiedlichen Wirtschaftssystemen entlang der Grenze leben. Für unsere spezifischen Probleme erhoffen wir uns von Bundesrat Cassis Gehör. Zur Schweiz gehören verschiedene Sprachregionen und Minderheiten. Ihr Einbezug ist wichtig, das war auch eines meiner Themen, als ich vor zwei Jahren selbst für den Bundesrat kandidierte.
Trauern Sie dieser verpassten Chance nach?
Nein, das bringt nichts. Ich sage immer: Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort
sein. Ich war nicht zur richtigen Zeit dort, Herr Cassis war es.
Haben Sie ihm durch Ihre Kandidatur den Weg geebnet?
Es wäre noch unverständlicher gewesen, jetzt nicht den Tessiner zu wählen. Der Durchbruch erfolgte 2015 mit drei Welschen. Jetzt war es einfacher, dass ein Tessiner nachrückte.
Die Solidarität unter den Lateinern spielte in diesem Fall allerdings gar nicht.
Die lateinische Schweiz lebt nur, wenn die Interessen der Romands zum Zug kommen. Als Tessiner treffen wir meist auf mehr Verständnis bei Deutsch- als bei Westschweizern. Unsere innen- und aussenpolitische Haltung seit der EWR-Abstimmung 1992 ist ein Hemmnis für engere Beziehungen zur Westschweiz.
Ist die Idee einer lateinischen Schweiz ein Konstrukt?
Mit den Romands verbindet uns eine gewisse kulturelle Nähe, aber geografisch sind wir Tessiner Teil der Gotthardachse. Diese geografische Nähe wird immer wichtiger. Wir arbeiten mit den Innerschweizern zusammen, zum Beispiel in Polizei- und Sicherheitsfragen oder auch in der Asylfrage.
Wo sehen Sie die drängendsten Probleme Ihres Kantons?
Nehmen Sie die Löhne: Ein junger Schweizer Ingenieur von der ETH Zürich hat eine erste Lohnerwartung von 6000 bis vielleicht 7000 Franken monatlich. Ein Italiener, der das Polytechnikum Mailand abschliesst – es ist von der Qualität her nicht so schlecht, es zählt zu den besten zehn Universitäten in Europa –, erwartet einen Anfangslohn von 1200 Euro. Wenn er im Tessin eine Arbeit für 2000 Franken kriegt, ist er mehr als zufrieden. Für uns ist das untragbar. Weiter erleben wir eine Verschlechterung unserer beruflichen Kultur. Wir verlieren an Know-how. Auch wenn die Ausbildungsqualität in Italien vergleichbar ist mit der unseren – die Ausführung, die Umsetzung, die Regeln in der Schweiz und in Italien sind nicht dieselben. Am Schluss bleiben die Tessiner nördlich des Gotthards, und die Italiener ziehen zu uns. Dass diese Entwicklung nicht gut ist, liegt auf der Hand.
Ist Cassis der Richtige, um die Probleme des Tessins im Bundesrat zu lösen?
Er ist Teil der Landesregierung und muss als Teil dieser Regierung agieren. Sicher hoffen wir auf mehr Gehör. Aber es ist immer noch die Aufgabe der Tessiner Kantonsregierung, unserem Kanton Gehör zu verschaffen. Und zwar bei allen Bundesräten,
nicht nur bei unserem Tessiner Landsmann. Es wäre eine Verminderung seiner Rolle, wenn Ignazio Cassis nur für die Tessiner da wäre.
Die Tessiner Behörden haben gegenüber Italien im Steuerstreit verschiedentlich Mittel ergriffen, die rechtlich umstritten waren und in Bern auf Kritik stiessen. So wurde ein Strafregisterauszug für Grenzgänger verlangt, und ein Teil der bei den Grenzgängern erhobenen Steuern wurde vorübergehend blockiert. Funktioniert diese Widerstandsmethode? Wie muss man mit Italien umgehen, um Erfolg zu haben?
Für mich ist das die einzige Methode, um bei den Italienern etwas zu bewirken. Wenn wir immer «ja, ja» sagen und uns darauf einlassen, die Dinge später zu regeln, erreichen wir nichts. Das Später-Regeln «vergessen» die Italiener gerne. Das haben wir etwa bei der Freizügigkeit der Finanzdienstleister gesehen, die man in einer späteren Phase regeln wollte. Doch dann haben die Italiener eine Gesetzgebung gemacht, die diese Freizügigkeit nur für Firmen erlaubt, die einen Sitz in Italien haben – unter italienischen Regeln notabene. Das ist keine grenzüberschreitende Dienstleistung mehr. Punto. Das zeigt, wie die Italiener agieren: Es geht immer nur um den Schutz von eigenen Interessen. Das müssen wir als Schweizer nicht nur zur Kenntnis nehmen, wir
müssen darauf konsequent reagieren.
Sind die Deutschschweizer in den Verhandlungen mit Italien zu naiv, zu korrekt?
Das ist meine Überzeugung. Ignazio Cassis hat es auch gesagt: Wenn die Schweizer Behörden mit den italienischen Behörden auf Englisch diskutieren, dann verlieren sie schon einen Teil der Informationen und der Spitzfindigkeiten, die auf der italienischen Sprache basieren. Wir müssen hart, aber fair mit den Italienern verhandeln: fair in der Form, hart in den Inhalten. Sonst gewinnen wir nichts. Ich bleibe bei meinen Positionen: Der Strafregisterauszug wird weiter gefordert, nicht nur für die Grenzgänger, auch vor allem für diejenigen, die bei uns wohnen möchten. Diese Haltung wurde von den Betroffenen fast nie in Frage gestellt, nur von den italienischen Behörden. Das beweist: Es ist mehr eine Grundsatzfrage für die Italiener, operativ ist es überhaupt kein Problem.
Das Tessin gilt als Hochburg von Clans, die teils über Generationen dominieren. Wie wichtig sind sie noch?
Heute ist das nicht mehr so wichtig, die Gesellschaft ist offener geworden. Es gab einflussreiche Gruppierungen, die teilweise auch hinter den Kulissen das Geschehen beeinflussten. Mit dem Aufstieg der Lega ist dieses Spiel ein bisschen gestört worden. Viele haben darunter gelitten: Sie haben nie Verantwortung übernommen, aber Politik «von hinten» betrieben.
Aus der Protestbewegung der Lega ist eine Partei mit Regierungsverantwortung geworden. Wo führt ihr Weg noch hin?
Wir müssen unseren Weg weitergehen, das heisst kritisch bleiben, auch gegenüber meiner
Tätigkeit oder der Tätigkeit meiner Kollegen in der Regierung. Wir sind die einzige politische Kraft im Tessin, die das Referendum ergriffen hat gegen eine Vorlage eines eigenen Staatsrats, nämlich bei der Abfallsteuer. Das Beispiel zeigt, wie wichtig die direkte Demokratie für uns ist. Oder nehmen Sie das Ja zum Staatskundeunterricht am letzten Wochenende: Die Lega und die SVP waren die einzigen Parteien, die sich von Anfang an dafür eingesetzt haben. Wir spüren besser, was die Bevölkerung will.
Was unterscheidet einen Tessiner von einem Deutschschweizer?
Es gibt Differenzen. Wir haben es bei der Abstimmung über die Rentenreform gesehen: Die Tessiner haben eine soziale Seele. Wir sind zwar katholisch, haben eine südländische Kultur, aber gegenüber den Behörden sind auch wir kritisch. Zudem sind die Tessiner treu. Es ist nicht zuletzt den Stimmen aus dem Tessin zu verdanken, dass die Schweiz vor 25 Jahren nicht dem EWR beitrat. Seitdem haben wir uns in der politischen Haltung ein bisschen von den Romands entfernt und mehr den Deutschschweizern angenähert, vor allem bei der Migration und in aussenpolitischen Angelegenheiten.
Inwiefern unterscheidet sich die Tessiner Mentalität von der italienischen?
Zum Glück haben wir noch eine schweizerische Tradition bei uns. Ich denke vor allem an den Umgang mit den Institutionen und die Korrektheit. Wir dürfen nie vergessen, dass wir für die Bürger da sind und nicht die Bürger für uns. In Italien ist es umgekehrt: Der Staat sieht in den Bürgern Diebe und Betrüger, und wenn diese negative Haltung besteht, ist auch die Gegenreaktion der Bürger verständlich: die Untreue gegenüber dem Staat.
Was regt Sie an den Deutschschweizern auf?
In den 1970er und 1980er Jahren befürchteten viele Tessiner eine Verdeutschschweizerung des Tessins. Doch das sind tempi passati. Das Zusammenleben zwischen Tessinern und confederati funktioniert seit Jahren sehr gut. Problematischer ist oft die Koexistenz unter den Deutschschweizern selber, wenn ich auf die vielen Beschwerden für Bauvorhaben schaue, die Deutschschweizer im Tessin gegen Deutschschweizer einreichen.
Letzte Frage: Fast noch wichtiger als die politischen Gräben scheinen im Tessin die sportlichen zwischen den Eishockeyvereinen Ambri-Piotta und HC Lugano.
Das ist so. Das geht viel tiefer als die Politik. Ein paar Monate, bevor ich Kantonsratspräsident wurde, trat ich in den Vorstand von Ambri- Piotta ein. Mich fragte nie jemand, wie es im Grossen Rat läuft, alle wollten wissen, wie es mit unserem Ambri steht. Das zeigt uns Politikern, wo die Leidenschaften der Bevölkerung liegen. Es relativiert unsere Rolle und ist gut für unsere geistige Gesundheit. Wir dürfen uns nicht zu ernst nehmen.