Da Weltwoche – Alex Baur l Die Wahl des Lega-Politikers Norman Gobbi in den Bundesrat wäre ein Akt der Vernunft. Der Tessiner könnte die politische Verspannung im Land lösen. Allerdings müssten viele über ihren Schatten springen – im Tessin, in der SVP, in der Bundesversammlung.
Die Nomination von Norman Gobbi, 38, zurzeit Präsident der Tessiner Regierung, dürfte einige politische Schwergewichte südlich des Gotthards arg in Verlegenheit gebracht haben. Vom Sozialdemokraten Roberto Malacrida über den Freisinnigen Giovanni Merlini und Gabriele Pinoja von der Volkspartei bis zum Christlichdemokraten Filippo Lombardi stellten sich zwar fast alle öffentlich hinter den Bundesratskandidaten der SVP. Alles andere wäre in der Tessiner Öffentlichkeit schlecht angekommen. Seit sechzehn Jahren wartet die italienischsprachige Schweiz auf einen Vertreter im Bundesrat. Der kürzlich mit Glanzresultat wiedergewählte Staatsrat Gobbi ist nicht nur beim Volk beliebt. Selbst seine politischen Gegner räumen ein, dass der Lega-Mann in der kantonalen Exekutive tadellose Arbeit leiste.
Was hinter den Kulissen gedacht und geredet wird, ist eine andere Geschichte. Da wäre zuerst ein ganz praktisches Problem: Einen Tessiner Bundesrat gibt es bestenfalls alle zwanzig Jahre – wenn Gobbi gewählt würde, das wissen seine Zeitgenossen, könnten sie ihre eigenen Ambitionen getrost begraben. Vor allem aber gehört Norman Gobbi einer Partei an, der Lega dei Ticinesi, die eigentlich gar keine Partei ist, die schon oft totgesagt wurde und trotzdem oder gerade deshalb seit einem Vierteljahrhundert von einem Wahlerfolg zum nächsten eilt. Mit fast dreissig Prozent Wähleranteil ist die Lega heute die stärkste politische Kraft im Tessin. Ausgerechnet diese Bewegung, die dem politischen Establishment partout auf der Nase herumtanzt, soll nun den nächsten Bundesrat stellen? Eine bittere Medizin.
Keiner wurde so gelöchert
In der deutschen Schweiz wittern derweil einige Polit-Auguren hinter Gobbis Lancierung ein bauernschlaues Ablenkungsmanöver der SVP, welches die Gemüter besänftigen und den Weg für den Zuger Thomas Aeschi freischaufeln soll. Doch das ist zu kurz gedacht. Namentlich SVP-Präsident Toni Brunner, der den Coup dem Vernehmen nach bereits nach den Wahlen einfädelte, meint es sehr ernst damit. Und das hat nicht nur damit zu tun, dass sich die zwei Landeier aus dem Toggenburg beziehungsweise der Leventina persönlich bestens verstehen. Die beiden verkörpern nicht nur dieselbe Generation, sie ticken auch politisch zum Verwechseln ähnlich.
Die grössten Widerstände hatte der Tessiner vorab gleichwohl bei der SVP zu überwinden. «Keiner wurde bei den Hearings so gelöchert wie Gobbi», sagt einer, der dabei war. Man habe sich vor allem gefragt, ob der Lega-Mann nicht ein verkappter «Kantonalsozialist» sei. Denn in sozialen und wirtschaftlichen Fragen deckt sich das Programm der eher linken Lega nur bedingt mit jenem der SVP. Doch dem dreisprachigen Tessiner, der in der TV-«Arena» locker bestehen könnte, gelang es, die Bedenken zu zerstreuen. Er schaffte die parteiinterne Ausmarchung mit dem besten Resultat.
Das politische Umfeld erscheint gleichwohl alles andere als vorteilhaft für Gobbi. Doch das war bereits so, als er 1996 mit 19 Jahren ins Gemeindeparlament von Quinto gewählt wurde. Niemand gab der damals neuen Lega oberhalb des Monte Ceneri eine Chance. Sie trat mit bloss zwei Kandidaten an und eroberte vier Sitze. Und so ging es weiter: 1999 wurde Norman Gobbi überraschend ins Kantonsparlament gewählt, das er zehn Jahre später souverän präsidierte. 2010 gelang ihm der Sprung in den Nationalrat, wo er in der SVP-Fraktion politisierte. 2011 folgte die Wahl in die Tessiner Regierung. Allen Warnungen zum Trotz fügte sich der Lega-Mann problemlos ins Kollegium ein und zeichnete sich schnell als zuverlässiger und dossiersicherer Pragmatiker aus.
Unterschätzter Bäckerssohn
Seine grösste Stärke ist vielleicht, dass man Gobbi stets unterschätzte. Als Bäckerssohn aus dem fernen Piotta bei Airolo hat man eigentlich keine Chance in der höheren Tessiner Politik, wo alteingesessene Familien, gleich welcher Couleur, seit Menschengedenken die Pfründen unter sich aufteilen. Die Lega, die in den 1990er Jahren nach mehreren Korruptionsskandalen als Gegenbewegung zu diesem Establishment entstand, bot dem Provinzpolitiker Gobbi eine unverhoffte Chance. Der instinktsichere Lega-Häuptling Giuliano Bignasca erkannte sehr früh das Talent des ehrgeizigen Leventiners, der, wie er selber, aus einer freisinnigen Familie stammte. Damit hatte es sich allerdings bereits mit den Gemeinsamkeiten. Anders als der rotzfreche Bauhengst Bignasca war der Bergler Gobbi nie ein Mann grosser Worte. Doch Bignasca wusste nur zu gut, dass man oben in den Tälern nicht so hemdsärmlig politisieren konnte wie unten im urbanen Sottoceneri. Er liess Gobbi freie Hand.
Die ländliche Leventina ist ein karges Pflaster für einen aufgeweckten Jugendlichen. Ausser Eishockey gibt es da nicht viel. Die Begeisterung für den Heimklub Ambri bekam Norman mit der Muttermilch eingeflösst, doch allein schon aufgrund seiner körperlichen Konstitution schaffte es Gobbi auf dem Eis nie weiter als bis zum Schiedsrichter. Neben dem Militär, wo er es zum Offizier brachte, bot ihm die Politik eine Alternative.
Gobbis Ziel war allerdings ein ganz anderes, als er 1997 an der Universität in Zürich das Studium der Politikwissenschaften begann: Er wollte in den diplomatischen Dienst. Bis ihn 1999 die unverhoffte Wahl ins Kantonsparlament wieder ins Tessin zurückholte. Er wechselte in der Folge an die Universität in Lugano und schloss sein Studium in Kommunikation ab. Danach eröffnete er mit Partnern ein Beratungsbüro in der Leventina, das sich vor allem mit dem Tourismus befasste.
Wir treffen Gobbi zu einem kleinen Rundgang durch die schmucke Altstadt von Bellinzona. Jeder scheint ihn hier zu kennen, kaum einer geht vorbei, ohne zu grüssen. Das allein ist nicht aussergewöhnlich im kleinräumigen Ticino. Auffällig ist hingegen die Begeisterung, mit der seine Nomination für den Bundesrat hier gefeiert wird – und vor allem die schon fast mürrische Bescheidenheit, mit der Gobbi auf den Jubel reagiert. Gobbi ist nicht der Politiker, der das Bad in der Menge sucht, aber er scheut die Menschen auch nicht. Auf seine brummelige Art wirkt er ganz einfach authentisch.
Wenn einer als Teenager in die Politik einsteigt und bereits mit 38 Jahren auf das höchste Amt zusteuert, das in der Schweiz zu vergeben ist, dann mag das auf den ersten Blick misstrauisch stimmen. Wie sehr muss sich ein Mensch verbiegen, um eine solche Karriere hinzukriegen? Sogar seine Ehefrau fand er über die Politik, aber nicht etwa im Plenarsaal oder in einer Parteizentrale, nein, Elena leitete das Bistro im Tessiner Parlament. Die Liaison ist irgendwie typisch für Gobbi: Bei allem Politisieren hat er die Bodenhaftung nie verloren. Er muss sich beim Volk nicht anbiedern, weil er einer aus dem Volk geblieben ist.
Tatsächlich konnte Gobbi nicht von einem Einzug in den Bundesrat träumen, als er der Lega beitrat. Auch wenn die Kandidatur in sich durchaus schlüssig ist: Wer sollte das Tessin besser vertreten als ein Vertreter der grössten politischen Bewegung, die auf nationaler Ebene seit 2003 in die SVP eingebunden ist?
Fauxpas auf dem Eis
«Lass dich wegen des Blicks nicht unterkriegen», bekommen wir bei unserem Rundgang durch Bellinzona mehrmals zu hören. Die «Neger-Kampagne» des Boulevardblattes wurde im Tessin sehr wohl wahrgenommen, und sie kam sehr schlecht an. Vor bald zehn Jahren hatte Gobbi in der Hitze des Hockeyderbys Ambri–Lugano einen schwarzen Spieler als negro verspottet. Negro heisst auch auf Italienisch nicht dasselbe wie nero (eine der Farben der bianconeri vom HC Lugano), was seine politischen Gegner genüsslich ausschlachteten. Gobbi hat sich schon tausendmal für den Fauxpas entschuldigt, zuallererst beim betroffenen Spieler, der die Sache locker nahm.
Der notorische Lega-Hasser und Ringier-Promi Paolo Bernasconi – in der Deutschschweiz eine bekannte Grösse, in der Tessiner Politik ein Fliegengewicht – hat die uralte Geschichte effektvoll rezykliert. Nur: Für Bernasconi ist niemand wählbar, der rechts von ihm steht. Die Rassisten-Story zeigt letztlich vor allem eines: Wie wenig die deutsche Schweiz vom Tessin begreift – und wie bitter nötig es wäre, die italienische Schweiz wieder etwas ernster zu nehmen. Schon deshalb wäre es höchste Zeit für einen Tessiner Bundesrat.
Wenn die Tessiner der Masseneinwanderungsinitiative so massiv zustimmten, wie sie die Europäische Union ablehnen, hat das nichts mit hinterwäldlerischer Fremdenfeindlichkeit zu tun. Sondern mit der engen Nachbarschaft zu Italien, wo viele Probleme markant schärfer daherkommen als anderswo. Wenn beispielsweise über 60 000 Grenzgänger das Lohngefüge wie auch die Verkehrslage an den Rand des Kollapses bringen, helfen schöne Worte nicht weiter. Andererseits hatten die Tessiner bei aller Abgrenzung schon immer eine wichtige Brückenfunktion gegenüber Italien. Auch die Beziehungen zu Rom waren schon besser und bedürfen dringend ein wenig der Pflege.
Das lässt sich illustrieren an den Verhandlungen um das Doppelbesteuerungsabkommen zwischen Bern und Rom, die sinnigerweise in englischer Sprache geführt wurden. Als die Italiener die Verhandlungen unterbrachen, stellte die Tessiner Regierung auf Druck der Lega kurzerhand die Überweisung von Quellensteuern in die Lombardei ein. Das war wohl nicht ganz regelkonform, aber dennoch sehr erfolgreich. Anders als in Bern regte sich in Rom kein Mensch über den frechen Wink mit dem Zaunpfahl auf. Im Gegenteil, man nahm die svizzeri nun etwas ernster und setzte sich wieder mit ihnen an den Verhandlungstisch.
In seinem Büro referiert Norman Gobbi über die Tessiner Geschichte und das komplexe Verhältnis zur Schweiz. Der Mann in seinem Element, im Sekundentakt prasseln die historischen Figuren und Ereignisse auf den Zuhörer. Mit einfachen, aber präzisen Sätzen erklärt er, warum das seit über 500 Jahren an die Eidgenossenschaft gebundene Tessin nicht bloss ein Wurmfortsatz dieses Landes ist, sondern ein historisch gewachsenes, zentrales Element im Ausgleich zwischen der Romandie und der Deutschschweiz, zwischen Nord und Süd.
Im historischen Exkurs blitzen auch immer wieder Gobbis eigene Wurzeln durch: die eines Urschweizers, eines Nachkommen von Sennen, Säumern, Händlern und Festungswächtern am Gotthard, der Wiege der Eidgenossenschaft. Auch das gehört zum Tessin.
Gobbi ist kein Politiker der grossen Würfe. Die Neuerungen etwa beim Handelsregister oder bei der Polizei unter seiner Regie waren unspektakulär, bei der Justizreform harzt es. Auf die Frage, was seiner Ansicht nach seine grösste Leistung sei, nennt Gobbi die Personalpolitik, etwa bei der Evaluation des neuen Polizeikommandanten. Anders als in der Tessiner Politik üblich habe er sein Personal strikt nach fachlichen Kriterien und ohne Rücksicht auf parteipolitische Herkunft und Seilschaften ausgewählt. Eine Haltung, wie man sie sich auch für einen Bundesrat wünschen würde.
Ganz einfach authentisch: Politiker Gobbi.(Bild: Pius Koller (imago))